October 24, 2018

Warum wir die Demokratie neu erfinden müssen

Die Welt versinkt im Online-Populismus. Doch womöglich kann ausgerechnet Digitalspätzünder Europa die Demokratie neu erfinden.

Geschichtsbücher werden das Brexit-Referendum von 2016 wohl den ersten digitalen Coup nennen. Die britische Demokratie wurde gehackt. Mit dramatischen Folgen.

"Jeden Tag kommen neue Horrormeldungen, was passieren könnte", sagt Carole Cadwalladr. "Krise, Arbeitslosigkeit, erst gestern hieß es, manche Lebensmittel könnten ausgehen." In einer atemberaubenden Artikelserie deckte Cadwalladr für den Londoner "Observer" den virtuellen Angriff auf. Die 48-Jährige enthüllte ein globales rechtes Netzwerk, das den Plan vom Umsturz schmiedete und vorantrieb: Trolls, Populisten, ein paar reiche Unternehmer, russische Diplomaten und Hacker.

Sie nutzten alle Tricks, die das Netz bot. Aus den sozialen Netzwerken heraus flutete die Brexit-Kampagne das Land mit Falschmeldungen, beängstigenden Märchen über gewalttätige Migranten, toxischen Hasskampagnen. Mit Microtargeting stimulierten sie Angst und Wut, ganz gezielt bei genau jenen Wählern, die besonders manipulierbar erschienen. Dabei halfen teils illegal erworbene Datensätze, die direkten Einblick in die Gefühlslage der Wähler ermöglichten. Die sozialen Netzwerke machten mit, weil sie gut daran verdienten.

"Heute fühlt sich England an wie ein ungeheuer wütender, zerstrittener Ort", sagt Cadwalladr, "es ist, als ob ich in einer alternativen Realität gelandet wäre."

Der Brexit-Hack zeigt, was passiert, wenn ein Land sich und seine Bürger im digitalen Zeitalter nicht mehr schützen kann. Wenn die demokratischen Institutionen zur politischen Meinungsbildung unterwandert werden. Wenn einem Land abhanden kommt, was es zum Staat macht: seine Souveränität.

Jeder demokratische Staat muss verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Angesichts der Übermacht der Gegner aber kann dies künftig kaum ein Land mehr allein leisten. Größere Organisationen sind nötig, ein Zusammenschluss von Kräften, die sich gemeinsam wehren können und wollen. Zum Beispiel die Europäische Union.

Sie wird in den nächsten Monaten beweisen müssen, dass sie den Kampf um die digitale Selbstbestimmung aufnehmen und auch gewinnen kann. Und hier ist das Wichtigste nicht, wie oft behauptet, die Wirtschaft. Es geht um Politik. Von ihr hängt in diesem Punkt alles ab.

Denn Großbritannien ist kein Einzelfall. Der digital getriebene Populismus wuchert weltweit. Die sozialen Netzwerke belohnen emotionale Ansprache mehr als Sachlichkeit. Auch deshalb sind in Deutschland radikale Politiker auf Facebook ungleich sichtbarer als alle Politiker der Mitte, inklusive der Kanzlerin.

In Italien brachte es die nach dem Wikipedia-Mitmach-Prinzip erdachte italienische Fünf-Sterne-Bewegung - die wohl erste Digitalpartei überhaupt - bereits an die Regierung. Durch ihre Koalition mit der rechtsradikalen Lega entstand eine hochgefährliche Kombination aus Digitalpopulismus und Neofaschismus. Der amerikanische Rechtsreaktionär Steve Bannon, ehemals Chefstratege von Donald Trump, preist Italien begeistert als "das Zentrum des politischen Universums".

Im September reiste er an, um ein Bündnis für die kommenden Europawahlen Ende Mai 2019 zu schmieden. Nun, wo in immer mehr Mitgliedstaaten der Europäischen Union Populisten Zweifel am Sinn des Zusammenschlusses schüren, wie etwa in Polen, Ungarn, Österreich, der Slowakei, will Bannon der europäischen Gemeinschaft den Todesstoß versetzen.

Doch sein Plan könnte genau der Weckruf sein, der die Staatengemeinschaft daran erinnert, welches Potenzial sie hat. Wie mächtig sie ist, auch und gerade im digitalen Zeitalter, in dem bisher immer andere den Takt vorgaben.

Denn während die einen die EU abschaffen wollen, richten andere all ihre Hoffnungen auf die Gemeinschaft. In einem winzigen Büro in Washington haut Barry C. Lynn auf den Tisch, immer wieder, während er spricht. "Wenn ihr euch in Europa nicht beeilt, dann steht etwas bevor, das schlimmer ist als der Faschismus", sagt er. Eigentlich meint er: Macht schneller und rettet uns.

Lynn, 57, sieht auf den ersten Blick aus wie einer dieser typischen Lobbyisten aus der US-Hauptstadt. Aber unter Anzug und Krawatte steckt der wohl gewiefteste Kämpfer gegen Monopole in den USA. Lynn war Fellow bei der New America Foundation, Amerikas führender Denkfabrik für Digitalfragen - im Sommer 2017 wurde er gefeuert. Er hatte zu fordern gewagt, man solle in den USA ebenso hart gegen die Monopolmacht von Google vorgehen wie in der EU. Google allerdings gehört zu den größten Geldgebern der Foundation.

Um seine Pläne weiterzuverfolgen, hat Lynn einen eigenen Thinktank gegründet, das Open Markets Institute. Für ihn ist das, was gerade weltweit passiert, die Nebenwirkung eines neuen Wirtschaftsmodells. Wie das Erdölzeitalter die Umwelt ruinierte, droht das Digitalzeitalter Politik und Gesellschaft zu zerstören.

Lynn sieht eine neuartige Form autoritärer Regime aufziehen, in dem die Tech-Riesen regieren: Google. Apple. Amazon. Facebook. "Ein Großteil der gesellschaftlichen Störungen in letzter Zeit ist die Folge von Machtkonzentration", sagt er. Die Tech-Giganten hätten nicht nur zu viel ökonomisches Gewicht, sie zerstörten auch die wichtigsten Steuerungssysteme unserer Gesellschaft, die Wahrheit und den Preis. Traditionell habe die freie Presse dafür gesorgt, dass Gesellschaften sich über sich selbst verständigten, erklärt Lynn. So sei eine allgemein akzeptierte Wahrheit, eine gemeinsame Realität ausgehandelt worden. Die aber sei bedroht, weil Google und Facebook sich zwischen Mensch und Information geschaltet hätten; ihre Algorithmen entscheiden, wer Informationen überhaupt bekommt. Außerdem saugten die Internetriesen Werbegelder ab, von denen Medien einst lebten.

Und damit nicht genug. Die Tech-Giganten zerstörten auch das zentrale Koordinatensystem für Wirtschaft und Politik, warnt Lynn: den Preis. "Ohne öffentliche Preise gibt es keine funktionierende Politik. Steigt der Brotpreis zu sehr, beginnen wir zu diskutieren, suchen nach dem Grund. Vielleicht brauchen die Bauern Hilfe. Vielleicht müssen die Straßen saniert werden. Oder man muss die Regierung wechseln", sagt Lynn. Google und Amazon aber verdienen am meisten mit der totalen Preisdiskriminierung: jedem sein eigener Preis, zu jedem Moment. "Die Politik wird blind."

Deshalb will Lynn die Digitalriesen, die größten Unternehmen aller Zeiten, zerschlagen lassen: Er will Instagram von Facebook trennen, Google-Maps von der Google-Suche. In seinem winzigen Hauptquartier zwängen sich eine Handvoll Mitstreiter. Wie stehen ihre Chancen in den USA? Unter Trump? Lynn zögert. Das US-Wettbewerbsrecht greift nur, wenn Monopolisten überhöhte Preise verlangen. An der Oberfläche sind Facebook wie Google aber gratis, und Amazon unterbietet gar alle Mitbewerber mit Dumpingpreisen. Das Geschäft dieser Unternehmen beruht großteils auf dem Datensammeln. In den USA hat Lynn kaum Chancen.

In der EU hingegen beurteilt das Wettbewerbsrecht die Marktmacht eines Unternehmens, fragt also, ob es Konkurrenten durch schiere Größe vernichten kann. Hier liegt Lynns Hoffnung. Immer öfter reist er mittlerweile nach Brüssel, Paris und Berlin.

Europa folgte lange dem amerikanischen Modell des Internets. Verführerisch waren die Schalmeienklänge einer angeblichen Demokratisierung von Informationen und einer Welt, in der so vieles wundersamerweise kostenlos ist. Das allerdings beruhte auf einem unsichtbaren Deal: Alle persönlichen Daten gehören den Internetunternehmen, und diese dürfen damit letztlich machen, was sie wollen.

In den USA gibt es noch nicht einmal ein Gesetz, das explizit regelt, was digitale Privatsphäre eigentlich ist. Das führt dazu, dass die Firmen sich ein Wettrennen um die ausgefeiltesten Tricks liefern, um die Daten der Nutzer zu sammeln. Und sie scheuen nicht davor zurück, diese an Werbetreibende und andere zu verkaufen - oder ihnen Zugang zu gewähren zu Herz und Hirn ihrer Nutzer. Beim Brexit-Referendum und den US-Wahlen profitierten davon auch ominöse russische Agenturen, die die Demokratie beeinflussen wollten. Und die britische Datensammelfirma Cambridge Analytica; sie beeinflusste Netze im Sinne des Trump-Lagers.

Die bisher einzige alternative digitale Sphäre ist die chinesische: eine eigene virtuelle Welt, abgeschottet hinter einer großen Firewall, ständig überwacht. In dieser Sphäre gehorcht letzten Endes alles dem Staat. Es ist das genaue Gegenteil des amerikanischen Modells, in dem der Staat seine Macht praktisch abgegeben hat. Die Führung sieht das Netz als grandioses Kontrollinstrument über die Bürger, als Werkzeug des Machterhalts. Ein Social Credit Score ist im Aufbau, der die Verfassungstreue jedes einzelnen Bürgers misst, berechnet anhand seiner Daten.

Googles langjähriger Vorstandsvorsitzender Eric Schmidt prognostizierte erst Mitte September, das Internet werde innerhalb der kommenden zehn Jahre in zwei Welten aufgespalten: auf der einen Seite diejenige, in der die chinesischen Regeln gelten; und auf der anderen die, die dem amerikanischen Konzept folgt.

In vielerlei Hinsicht ist das heute schon so. Dem Einzelnen bleibt letztlich nur die Wahl, sich einem von zwei Lehnsherren zu unterwerfen: dem chinesischen Staat - oder US-Unternehmen. Das ist eigentlich keine Wahl.

"Im digitalen Raum muss eine neue Option entstehen. Eine andere Welt. Und die EU ist dabei, diese zu bauen", sagt Luukas Ilves. Er steht auf seiner Dachterrasse in Brüssel und gibt seine Antworten über Skype. "Alles kann gut gehen, wenn wir nur schnell genug sind. Wenn wir nur an uns glauben. Und wenn die Wahl im Mai nicht alles verpfuscht."

Ilves arbeitet für die Brüsseler Denkfabrik "Lisbon Council". Der Thinktank sorgt mit Thesenpapieren über eine neue digitale Vision Europas für Aufsehen in Brüssel. Ilves ist der Sohn des früheren estnischen Präsidenten Thomas Ilves und der amerikanischen Starpsychologin Merry Bullock; mit Streberhaarschnitt und Fliege erinnert er an Harry Potter. Vor dem Studium in Stanford wuchs er in München und Washington auf, er spricht Deutsch. In Digitalkreisen gilt der 31-Jährige als eines der größten Talente einer aufkeimenden europäischen Tech-Politik.

"Es gibt eine europäische Hypothese der besseren digitalen Zukunft", sagt Ilves. "Wir glauben, dass Digitalisierung besser funktionieren könnte, wenn der Mensch im Mittelpunkt steht." In China wie in den USA wird stets argumentiert, dass Bürger ihr Recht auf Privatsphäre aufgeben müssten, um die digitale Wirtschaft zu fördern. Das Ziel einer europäischen Digitalisierung sei in Abgrenzung dazu ganz einfach: "Die Wirtschaft soll aufblühen - und unsere Freiheiten bleiben trotzdem erhalten."

Ilves ist überzeugt, dass Europa sich zu einem eigenständigen, souveränen Staat weiterentwickeln muss, mit einer wirklich globalen Rolle. Auch und gerade im Netz. "Wir müssen verstehen, dass wir erst ganz am Anfang der Digitalisierung stehen. Und dass man die Digitalisierung nicht mehr als ein separates Feld betrachten kann. Alles ist digital."

Wenn man mit Ilves spricht, klingt es ganz einfach. Er hat drei Bereiche identifiziert, in denen die Europäer vorangehen können, um ihren eigenen Entwurf einer digitalen Demokratie zu verwirklichen. Tatsächlich sind sie schon dabei, erfolgreicher, als sie es selbst oft wahrnehmen.

Baustein eins ist der Abgrenzungskampf gegenüber den Digitalmonopolen; das kommt dem nahe, was auch der US-Lobbyist Barry Lynn fordert. Nur Europa als Ganzes ist stark genug, den Tech-Giganten etwas entgegenzusetzen.

Und das tut es auch: Die dänische EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager fährt seit 2015 eine harte Linie gegen US-Unternehmen, um diese mit hohen Strafen zur Einhaltung der europäischen Wettbewerbsrichtlinien zu zwingen. Wegen Missbrauch der Marktmacht verhängte sie Rekordstrafen, zuletzt verlangte Vestager von Google 4,34 Milliarden Euro. Das "Time Magazine" bezeichnete sie als "Googles größten Albtraum". Jetzt hat Vestager Ermittlungen gegen Amazon aufgenommen.

Baustein zwei ist die digitale Sicherheitspolitik. Die EU hat ein intensives Programm rund um Cybersecurity gestartet, also zur Sicherheit im digitalen Raum, nicht zuletzt, um Demokratie-Hacks zu verhindern, wie sie Großbritannien erlebte. Neben der Abschirmung von Wahlen gehören Maßnahmen gegen Terrorismus, Datenschutzvorschriften und Kooperationen gegen Cyberattacken etwa auf Kraftwerke dazu. Auf Betreiben der EU-Kommission unterzeichneten Onlineunternehmen wie Facebook und Google im September einen weltweit einmaligen Verhaltenskodex, der Falschinformationen in sozialen Medien eindämmen soll.

In den Augen von Kenneth Geers, einem der weltweit führenden Experten für digitale Kriegsführung und Desinformation, ist keine andere westliche Organisation derzeit besser gerüstet, um Cybersecurity voranzutreiben, als die EU - auch nicht die USA. "Nicht einmal die Nato kann mithalten, da sie nur über militärische Kompetenzen verfügt. Cybersecurity greift aber auch weit in den zivilen Bereich hinein", sagt Geers.

Für Geers ist die EU schon heute ein machtvoller Akteur im Netz. Geers forscht unter anderem für die der Nato nahestehende Denkfabrik "Atlantic Council". Er lobt die große Bandbreite der Abwehrmaßnahmen in Europa. Nachdem Estland bereits 2007 Opfer eines russischen Hackerangriffs geworden war - damals wurden Zugänge zum Onlinebanking blockiert, Newsmedien lahmgelegt, die Bevölkerung aufgehetzt -, stieg das Land an der Grenze zu Russland zu einer "digitalen Supermacht" auf, urteilt Geers.

Frankreich habe im Präsidentschaftswahlkampf 2017 erfolgreich demonstriert, wie sich russische Einmischung im Wahlkampf parieren lässt: Die Hacker drangen zwar in E-Mail-Accounts ein, ihr Angriff verpuffte jedoch, weil das Team des Kandidaten Emmanuel Macron schon vorab verbreiten ließ, man habe absichtlich Accounts mit falschen Informationen gefüllt; kaum jemand griff daraufhin die gehackten Informationen auf.

Die bereits 2001 vom Europäischen Rat formulierte Budapester Konvention zum Schutz vor Computerkriminalität hat sich zudem zum globalen Standard entwickelt. Sie etablierte eine gemeinsame Strafrechtspolitik etwa bei Onlinebetrug, Kinderpornografie und Verstößen gegen die Sicherheit von elektronischen Netzen. Sogar die USA unterzeichneten diese Vereinbarung.

Der dritte und bislang wichtigste Baustein für einen souveränen Digitalstaat aber ist die Schaffung eines eigenen digitalen Raumes. Exakt das verbirgt sich hinter dem sperrigen Begriff "Datenschutz-Grundverordnung" (DSGVO), dem europäischen Regelungswerk, das im Mai dieses Jahres in Kraft trat. Kritiker watschen die 99 Artikel und 11 Kapitel umfassende DSGVO oft als Bürokratiemonster ab. In Wahrheit aber erschuf sie einen weltweit betretbaren digitalen Raum nach europäischen Maßstäben.

In ihm gelten für europäische Bürger und alle Unternehmen, die in der EU aktiv sein wollen, die gleichen Regeln: das Recht auf Einsicht, Löschung oder Mitnahme von Daten zu anderen Anbietern sowie der präventive Datenschutz für Nutzer.

"Schlussendlich geht es um Datensouveränität", fasst es der Grünen-Politiker Jan Philipp Albrecht zusammen: "Das heißt, dass der Einzelne die Einsicht und Kontrolle hat, was mit seinen Daten passiert." Albrecht prägte als langjähriger Vize im Justiz- und Innenausschuss des EU-Parlaments die Verordnung maßgeblich, im September trat er ein Ministeramt in Schleswig-Holstein an. Dass der 35-Jährige die Datenschutz-Grundverordnung gegen den massiven Widerstand von Lobbyisten und trotz 4000 Änderungsanträgen durchbrachte, hat ihm den Ruf als "Zuckerbergbesieger" beschert.

Anfangs gab es große Vorbehalte gegen die DSGVO, sie behindere Innovation, hieß es. Mittlerweile jedoch ist sie zu einer Art Vorbild aufgestiegen - sogar in den USA gilt sie nun als wegweisend für effektives Handeln im digitalen Raum. Seit dem Spätsommer kursiert in Washington ein Thesenpapier des in der Digitaldebatte tonangebenden demokratischen Senators Mark Warner. Mehr als die Hälfte seiner Vorschläge für eine bessere Digitalpolitik sind der DSGVO entlehnt.

Eigentlich ist Europa schon ziemlich weit gekommen, die Digitalisierung mit eigenen Vorstellungen und Werten voranzutreiben. Nun fehlt nur noch ein letzter technischer Schritt, damit sich die vorhandenen Bausteine zu einem für die Bürger spürbaren neuen digitalen Alltag verbinden. Auch dieser Schritt ist in Vorbereitung.

Oft wird behauptet, dass die EU deshalb in Digitalfragen hinterherhinke, weil es ihr nicht gelungen sei, einen eigenen Plattformgiganten aufzubauen. Doch ausgerechnet das könnte sich als Glücksfall erweisen. Denn während die Digitalgesetzgebung in den USA durch finanzstarke Digitalunternehmen blockiert wird, die den Status quo erhalten wollen, fehlt hierzulande ein derartiges Hindernis; es gibt keine Digitalindustrie, die Brüssel Spielregeln vorschreibt.

Daraus folgt eine kühne Vision, für die vor allem Taavi Kotka steht, der ehemalige Chief Information Officer der estnischen Regierung: Die EU soll sich als digitaler Staat neu erfinden, fordert der 39-Jährige, selbst zu einer Plattform werden. Das hieße, eine Art Betriebssystem zu schaffen für den digitalisierten Alltag in einer Demokratie. Vorbild dafür ist Estland. Dort wurde bereits 1999, kurz nachdem Google gegründet worden war, ein System ins Leben gerufen, das organisiert, wie Behörden zusammenarbeiten - und zugleich alle Rechte der Bürger wahren. Es regelt, wie Daten auf sichere Art zwischen Behörden ausgetauscht werden können.

Diesen Ansatz will Kotka nun auf die gesamte EU übertragen. Es würde den Staat verschlanken und den Alltag in vielen Bereichen vereinfachen: Bürger könnten dann innerhalb der ganzen EU reibungslos Geschäfte tätigen, sich überall mit einer Art digitalem Pass identifizieren und digital wählen.

Das heutige estnische Modell, "X-Road" genannt, ist dafür das Vorbild. Es beruht auf einer Verschlüsselung aller Daten; jeder besitzt einen individuellen Zugangscode, eine digitale Identität, zeichnet mit einer digitalen Signatur. Alle spezifischen Daten unterliegen dem Once-Only-Prinzip, müssen also nur einmal erfasst werden. Jeder, der nachweisbar Zugriff auf bestimmte Daten braucht, bekommt ihn - sicher und überprüfbar. Beide Prinzipien, Once-Only und die digitale Identifikation durch eine "eSignature", sind EU-weit mittlerweile beschlossen. Mit Finnland hat zudem ein weiterer EU-Staat begonnen, das X-Road-Konzept in die staatliche Verwaltung einzuführen.

Kotka, eigentlich Ingenieur und heute Berater des stellvertretenden EU-Kommissionspräsidenten Andrus Ansip, plädiert für die Einführung einer fünften EU-Freiheit - neben freiem Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr: dem Recht der Bürger auf ihre Daten. Diese hätten dann die Möglichkeit, damit zu handeln. Resultat wäre ein besserer Datenmarkt als in China und den USA, sicherer und effizienter.

Es wäre der ganz große Befreiungsschlag - Europa als souveräner, digitaler Staat, viel mehr als nur ein Staatenverbund: eine digitale Plattform, auf der sich Bürger und Demokratie entfalten können. Etliche Weichen dafür sind bereits gestellt. Es gibt schon jetzt einen einheitlichen Rechtsraum mit klaren Grenzen, eine digitale Sicherheitspolitik, bald kommt die einheitliche digitale Identität für jeden Bürger. Bei den anstehenden Wahlen im Mai wird sich zeigen, wie attraktiv diese Vision ist. Wenn die Populisten jedoch am Ende stärker sind, wird Europa wohl von der Digitalisierung gefressen.

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