May 9, 2020

Audrey Tang Interview – «Keine Technologie ist besser als Seife»

Sagt ausgerechnet Audrey Tang, Digitalministerin Taiwans und damit mitverantwortlich dafür, dass der Inselstaat die Krise bislang unter Kontrolle hat. Ein Gespräch über die Ausweitung der Demokratie in der Coronakrise.

Audrey Tang, Taiwans Digitalministerin, ist für viele, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Demokratie digitalisiert werden kann, ein Star. Sie vertritt die Vision, dass Technologie zuerst dem Menschen dienen soll. Eine Vision, die sich in der Coronakrise für Taiwan als hilfreich erwies: Bei 24 Millionen Einwohnern verzeichnet Taiwan nur wenige Hundert Infektionen. Bereits im April erzielte die Inselnation vor der Küste der Volksrepublik China fallfreie Tage. Und das ohne einen Lockdown. Als Politikerin ist die 39-Jährige einzigartig. Sie half, eine digitale Plattform für Bürgerinnen und Bürger aufzubauen, eine Art Facebook für Politik, mit fast zehn Millionen Nutzern, und in das politische System zu integrieren. Mittwochs steht ihr Büro für alle offen. 2016 wurde sie ins Amt berufen, als erste Transgender-Frau und jüngstes Kabinettsmitglied.
Mit 14 Jahren hatte das hochbegabte Kind (IQ über 160) die Schule abgebrochen, sich Französisch und Deutsch beigebracht, um fortan aus dem Netz zu lernen. Tang wurde zu einer der weltbesten Open-Source-Programmiererinnen, arbeitete für Wikimedia und beriet Apple bei der Entwicklung der künstlichen Intelligenz Siri. Sie liess sich mit einem Bitcoin pro Stunde bezahlen – was ihr zusammen mit Unternehmensgründungen ihr Vermögen bescherte.
Taiwan hatte Glück, als Corona ausbrach: Zufällig entdeckte der Chef des Zentrums für Infektionskrankheiten am 30. Dezember die Posts des Arztes Li Wenliang aus Wuhan im Netz. Vizepräsident Chen Chien-jen wiederum ist Epidemiologe und hat das Land seit dem SARS-Ausbruch 2003 auf eine Epidemie vorbereitet.

Das Magazin: Frau Tang, die Schweiz lockert am Montag den Lockdown. Taiwan liegt uns voraus. Was passiert in Ihrem Land?
Audrey Tang: Noch ist nicht alles geöffnet. Unsere Schulen sind es, aber Unternehmen, die keine soziale Distanz garantieren können, bleiben geschlossen. Ich meine diese intimen Bars. Im Moment diskutieren wir, ob wir Geschäftsflüge wieder aufnehmen. Zum Beispiel in Länder mit ähnlichen Fallzahlen, etwa Neuseeland.
Schweden hat einen liberaleren Ansatz gewählt, andere Länder sind restriktiver. Was ist effektiver im Kampf gegen Covid-19: Demokratie oder Autoritarismus?
Kooperatives Regieren, CoGov, ist meiner Meinung nach der effektivste Weg. (Gemeint ist die Beteiligung der Zivilgesellschaft, eine Art «Service public der Mitwirkung». Anm. d. Red.)
Taiwan hat nie einen Lockdown verhängt. China dagegen wird für die entgegengesetzte Strategie gelobt: alles schliessen, alle einsperren, ein Überwachungssystem schaffen.
Taiwan ist partizipatorischer. Wenn man unsere Bürger fragt, wer für den Erfolg verantwortlich sei, werden sie sagen: wir selber. Die Regierung hat vielleicht zu langsam reagiert, hat Probleme oder Zweifel gehabt, aber wir, die Bürger, haben der Regierung geholfen und Taiwan gerettet. Wichtiger als das Endergebnis ist für mich die Frage, wie wir es erreichen. Taiwan hat die Demokratie während der Coronakrise tatsächlich gestärkt. Das ist unsere Leistung.
Wie lässt sich die Verbreitung des Virus am besten stoppen: mit gesellschaftlichen Massnahmen? Plexiglastrennwänden und Masken? Technologie?
Das Wichtigste ist richtiges Händewaschen. Keine Technologie ist in diesem Kampf besser als Seife.
Wenn Sie entscheiden könnten, würden Sie für Ihr Land Masken oder eine App zur Kontaktverfolgung wählen?
Ich nähme Seife und Handhygienesprays. Selbst hochwertige Masken sind nicht sehr nützlich, wenn man sich die Hände schlecht wäscht.

Cool bleiben: Aufgrund eines Herzfehlers darf sich Audrey Tang nie aufregen. (Bild: We R The Catcher)

Contact Tracing per App wird im Westen als notwendiges Instrument gegen die zweite Welle diskutiert. Was denken Sie?
Als Technologin bin ich daran interessiert, aber wir haben so etwas noch nicht eingeführt. Taiwan hat derzeit einfach keinen dringenden Bedarf. Es gibt gemeinnützige Organisationen wie die taiwanesischen AI Laboratories, die zum Beispiel die Bluetooth-Verfolgung oder die singapurische «Trace-Together»-Technologie implementiert haben. Aber im Moment ziehen wir das für einen Einsatz nicht ernsthaft in Betracht.
Warum nicht?
Soweit ich weiss, hat keine der Apps breite Akzeptanz gefunden. Und genauso wie Masken sind Bluetooth-Apps zur Kontaktverfolgung erst dann nützlich, wenn eine grosse Anzahl von Menschen sie benützt.
Was also ist Taiwans Strategie gegen Covid-19?
Unsere Strategie setzt auf drei Bausteine: Schnelligkeit, Fairness und Spass. Der schnelle Teil ist die tägliche Pressekonferenz. Ebenso wichtig ist die schnelle Kontaktnachverfolgung der Infizierten. Das Wichtigste aber ist sicherzustellen, dass jeder Bürger den epidemiologischen Grund jeder Entscheidung versteht. Wir fördern die Epidemiologie-Kompetenz in der Bevölkerung, indem wir nach dem Zufallsprinzip Umfragen verschicken. Etwa: Wissen Sie, was R0 ist? Wissen Sie, warum soziale Distanzierung nützlich ist? Können Sie erklären, wie man die Hände richtig wäscht? – Unser Vizepräsident hat ein Videoquiz mit solchen Fragen verbreitet, um Menschen für die Teilnahme an seinem Online-Epidemiologiekurs zu gewinnen.
Warum machen die Taiwanesen mit?
Es ist populär, sich über Epidemiologie zu informieren. Leute schreiben sich für die Kurse ein, tauschen Tipps und Ideen aus und checken Fakten. Dass es zum Beispiel nicht hilft, Knoblauch zu essen, um das Virus zu bekämpfen. Wenn man Massnahmen autoritär durchsetzt, ohne zu erklären, warum, verstehen die Menschen das nicht und verbreiten Verschwörungstheorien.
Taiwan ist von Meer umgeben, die Schweiz von Nachbarländern. Inwieweit kann man die Länder vergleichen?
Man kann Zivilgesellschaften vergleichen in Bezug auf ihre Solidarität, auf ihre Innovationsbereitschaft, darauf, wie neue Ideen umgesetzt werden, wie schnell sie sich verbreiten. Das kann nützlicher sein, als zu vergleichen, wie schnell sich das Coronavirus ausbreitet.
Pro-chinesische Trolls verbreiten in Taiwan online Desinformationen. Wie gehen Sie damit um?
Wir veröffentlichen blitzschnell eine Richtigstellung durch «Zhongchai». Das ist der «Pressesprecher-Hund» des Ministeriums für Gesundheit und Wohlfahrt, ein niedliches Hunde-Meme, das sich auf Social Media viral ausbreitet. Das Meme informiert etwa darüber, dass es eine neue Funktion in Taiwans Masken-App gibt, mit der Nutzer ihre nicht eingelösten Maskenrationen bedürftigen Menschen im Ausland spenden können.
Taiwan hat auch weniger lustige Massnahmen gegen die Verbreitung von Desinformationen eingeführt. Strafen von bis zu 100 000 Franken und bis zu drei Jahren Gefängnis.
Ja. Wenn es um die Verbreitung von Desinformationen über bestimmte Massnahmen gegen die Epidemie geht. Dann werden deren Verbreiter geahndet. Es gab zum Beispiel Posts, dass man durch Klicken auf bestimmte Social-Media-Beiträge eine Maskenbox gratis erhalten könne. Aber die Leute bekamen statt Masken ein Computervirus.
Wie funktioniert Taiwans Contact Tracing?
Die Ermittlung von Kontakten betrifft zunächst Personen bei der Einreise. Sie müssen Gesundheitszustand und Symptome angeben. Es gibt mehrere Temperaturscans. Jeder einzelne ist sehr ungenau, aber wenn man sie in mehrschichtigem Ansatz anwendet, findet man definitiv Menschen mit Fieber und Symptomen. Und: Zeigt jemand Symptome, wird er natürlich getestet.
Das taiwanesische Zentrum für Seuchenbekämpfung hat eine Hotline eingerichtet. Was passiert, wenn ich da anrufe?
Sie werden gefragt, ob Sie Vorschläge oder Tipps haben. Da war zum Beispiel ein kleiner Junge, der sich beschwerte, dass er in der Schule schikaniert wurde, weil er eine medizinische Maske in Rosa trug. An der nächsten Pressekonferenz trugen Taiwans Gesundheitsminister und sein Stab rosafarbene Masken.
Ist das eine Aufforderung zur Bespitzelung des Nachbarn?
Nein. Es geht um Partizipation und Information. Das ist Fairness. Man kann neue Ideen einbringen. Ein Anrufer schlug vor, Reiskocher zum Desinfizieren der Masken zu verwenden, und publizierte dann eine wissenschaftlich begutachtete Studie, wie man mit dieser Methode eine Maske drei- bis fünfmal wirksam desinfiziert.
Selbst wenn Sie keine Apps für das digitale Tracing einsetzen, verwenden Sie doch jede Menge digitaler Tools.
Richtig, die Telekommunikationsunternehmen haben sich bereit erklärt, ein Heimquarantäne-Benachrichtigungssystem aufzubauen, das Nachrichten an die lokalen Hausabwarte oder die Polizei sendet, wenn die Menschen die Quarantäne verletzen. Dieser «digitale Zaun» ist unerlässlich, um sicherzustellen, dass die Quarantäne funktioniert, ohne dass Leute eingesperrt werden müssen. Mittlerweile verwenden wir die Daten für «Hitzekarten», sodass Bürger in Apps überfüllte Orte erkennen und diese meiden können.
Taiwan hat Masken nach Europa geschickt, auch in die Schweiz. Sind Masken in Taiwan nicht mehr rationiert?
Doch. Neun Masken pro zwei Wochen für Erwachsene. Kindern unter 16 Jahren stehen zehn Masken zu. Unsere Bürger können auf drei Wegen zu Masken kommen. Die erste Möglichkeit ist, zu einer Apotheke oder einem Verkaufsautomaten in Taipeh City zu gehen. Der Vorrat ist begrenzt, deshalb ist die digitale Masken-Map wichtig, die die Verfügbarkeit anzeigt. Der zweite, bequemere Weg ist, in einen der über 11 000 Gemischtwarenläden zu gehen und mit der Krankenkassenkarte vorauszuzahlen. Sie können dann eine Woche später die Masken abholen. Die dritte Möglichkeit ist, die Masken über eine Online-App zu bestellen und nur zur Abholung in den Laden kommen zu müssen.
Sie verwenden Apps, um Masken zu verteilen – aber auch einfache nicht-technische Hilfsmittel für Kinder oder ältere Menschen.
In Taiwan haben wir ein Anreizdesign für Masken entwickelt. Sobald eine Handvoll Menschen in einer Menge eine Maske tragen, können sie viele dazu bewegen, ebenfalls eine Maske zu tragen. Es ist wichtig, weil wir Masken als etwas sehen, das einen daran erinnert, den Mund nicht mit einer ungewaschenen Hand zu berühren. Es ist eine Selbstkontrolle. Sie schützt indirekt.
Was ist für Sie die grösste Überraschung im Kampf Taiwans gegen Covid?
Ich habe nicht erwartet, dass eine Zivilgesellschaft so viele Programmierer und Designer hat, die ihr gesamtes Wissen dieser Mobilisierung gegen das Virus zur Verfügung stellen. Das Masken-Mapping zum Beispiel. Als wir ankündigten, dass die Regierung den Bestand an Masken in den Apotheken alle drei Minuten aktualisieren will, rechneten wir mit vielleicht drei Entwicklerteams. Es kamen aber 130 Teams, von denen jedes eine andere App erstellt – für Menschen mit Blindheit, für Menschen mit anderen Behinderungen, Apps in anderen Sprachen und so weiter.
Sie sagen, Taiwan habe also durch diese Techniken den Kampf gegen das Virus zur gemeinsamen Aufgabe gemacht und so die gesellschaftliche Teilhabe in der Krise gestärkt.
Die partizipatorische Norm während der Coronakrise stärkte die Verbindungen der Zivilgesellschaft, unabhängig davon, ob es eine gute, vertrauensvolle Beziehung zwischen Regierung und Bürger gab. Wir haben ähnliche Entwicklungen in Hongkong erlebt, wo die Menschen kein so hohes Vertrauen in ihre Regierung haben wie bei uns.
Taiwan ist von der WHO ausgeschlossen, aber Sie haben früh das Auftauchen des Virus erkannt und versucht, die WHO zu erreichen.
Wir informierten per E-Mail, dass wir auf PTT, dem taiwanesischen Onlinediskussionsforum, die Veröffentlichungen von Dr. Li Wenliang aus Wuhan gesehen haben. Es handelte sich um die Information, die bereits in den sozialen Medien der VR China im Umlauf war – nur dass die Menschen in Wuhan eine Zeit lang nichts davon erfuhren, weil sie harmonisiert (zensiert, Anm. d. Red.) war. Li Wenliang erhielt von der örtlichen Polizei eine Strafe für die Verbreitung von Gerüchten. Während China noch zu vertuschen versuchte, erregte das Virus in Taiwan bereits Aufmerksamkeit.
Was, wenn die WHO offener gewesen wäre?
Am letzten Dezembertag 2019 haben wir von der neuen Viruserkrankung Kenntnis erhalten. Wir kontaktierten die WHO deswegen. Dann beschlossen wir, gleich am nächsten Tag mit der Gesundheitsinspektion der Flugpassagiere aus Wuhan zu beginnen. Die WHO hingegen empfahl bis zum 10. Januar keine gesundheitlichen Untersuchungen der Flugpassagiere aus Wuhan.
Die Welt hat also zehn Tage im Kampf gegen Covid ver-loren, weil wir nicht auf Ihre Frühwarnung gehört haben?
Ich weiss nicht, wie sehr zehn Tage Voraussicht für jedes Land die Dinge verändert hätten. Aber ich bin traurig, dass wir damals diese Möglichkeit nicht hatten.
Zurück zur Zukunft Europas. Machen Sie sich Sorgen, wenn Sie auf Europa blicken, dass wir unsere demokratischen Freiheiten verlieren oder freiwillig aufgeben könnten?
Solange die Menschen sich darüber Sorgen machen, werden sie sie nicht verlieren. Wenn die Menschen immer noch denken, es sei beunruhigend, dann bedeutet das, dass die Norm nicht geändert wurde. Es ist nicht so, dass der Autoritarismus plötzlich in Ordnung wäre. Die Pandemie ist ein Verstärker: Wenn man bereits autoritär ist, verstärkt sie den Autoritarismus. Wenn Sie aber eine partizipatorische Demokratie sind, dann verstärkt die Pandemie die partizipatorische Demokratie.

Hannes Grassegger ist Reporter bei «Das Magazin». hannes.grassegger@dasmagazin.ch

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