July 29, 2010

Gegen den Kopf

"Eine gute Schlägerei kann dir viel bringen. Jahrelang": Jugendliche Gewalttäter erzählen, was sie antreibt. Und Opfer berichten, was sie fühlen.

Viktor Bänziger geht zu Boden, Schläge und Tritte prasseln auf ihn nieder. Auf seinen Oberkörper, auf die Seiten, gegen den Kopf. Der 58-jährige versucht sich aufzurichten, sich zu wehren. Doch er ist allein gegen drei. Drei Jugendliche.


Es ist die kalte Neujahrsnacht 2010, etwa halb zwei, fast niemand ist unterwegs in der Zürcher Hohlstrasse. Die drei Kapuzenpulloverträger haben den Radfahrer erst mit dem Auto abgedrängt und dann wortlos attackiert. Für sie ist der kräftige Mann wohl genau das richtige Opfer: nicht zu schwach, dennoch unterlegen. Nicht einmal die Polizei benachrichtigt der Stadtzürcher, nachdem die drei von ihm ablassen und flüchten, erschreckt durch eine Sirene. Es ist reiner Zufall, dass der Gastronom und aktive Fußballspieler nicht schwer verletzt wurde bei diesem wortlosen Angriff aus dem Nichts.


Spontane Gewalt durch Gruppen junger Männer – das ist ein Phänomen, das sich in den Kurzmeldungen der Zeitungen durchs ganze Land verfolgen lässt. Etwa letzte Woche: Auf dem Campingplatz von Tenero am Lago Maggiore prügeln fünf Jugendliche einen 55-Jährigen ins Spital; er hatte sie nachts um halb drei gebeten, den Lärm runterzufahren. Soeben erst wurde beim Basler Strafgericht Anklage wegen versuchten Mordes und versuchter schwerer Körperverletzung erhoben gegen drei junge Schweizer zwischen 19 und 23 Jahren. Sie griffen Ende 2009 in der Basler Rebgasse zwei Passanten mit Tritten und Schlägen an. Aus dem Nichts.


Die verheerende Prügeltour dreier Küsnachter Schüler in München; die willkürlichen Krawalle während des "Reclaim the Streets"-Umzuges in Zürich; der Tod eines Politikstudenten in Folge eines – laut Geständnis – "grundlosen" Angriffs von drei 18- bis 22-jährigen Tätern in Locarno 2008: All die Attacken aus dem Nichts beschäftigen die Menschen landesweit.


Jeden und jede könnte es erwischen: Dieses Gefühl ist es, was die Berichterstattung über die Fälle spontaner Gewalt bei vielen auslöst. Sieht er heute Jungengruppen herumstehen, wechselt Raphael Rogenmoser oft die Straßenseite. Der 32-jährige Luzerner arbeitet im Kulturbereich, ein Bürojob in Zürich. Rogenmoser wurde bereits zweimal grundlos attackiert. Das erste Mal erwischte es den schlanken Mann in einer Unterführung. Es ist weit nach Mitternacht, als Rogenmoser – 1,92 Meter groß – auf dem Weg zu einer Party die Treppen hinabläuft.


Plötzlich spürt er, wie von hinten jemand an ihn heranspringt, ihn um den Oberkörper fasst. Gleichzeitig nimmt er zwei weitere junge Männer wahr, die ansetzen. Als die ersten Schläge eintreffen, kann er sich losreißen. Er entkommt.


Das zweite Mal wird Raphael Rogenmoser in einem Zug von zwei Jugendlichen attackiert, mit der Faust ins Gesicht geschlagen. "Was seid ihr eigentlich für Feiglinge", schreit einer der Schläger in den voll besetzten Passagierraum, "kommt her. Meine Freunde sind nicht so Schwächlinge wie ihr." Keiner rührt sich.


Warum häufen sich solche Fälle in einem der reichsten und friedlichsten Momente in der Geschichte – der Schweiz des dritten Jahrtausends? Nirgendwo dürfte es einfacher sein, all die Thesen zu entkräften, wonach solche Taten der Niederschlag von Armut, Chancenlosigkeit, Unterdrückung seien. Eher lassen die Schweizer Fälle vermuten, dass solche Gewalttaten einen Selbstzweck haben könnten, einen "Erlebniswert", statt Mittel zu einem greifbaren Ziel zu sein. Wann Gewalt klar als "instrumentell" zu verstehen sei, lasse sich im Einzelfall nur schwer bestimmen, sagt der bekannte Kriminologe Martin Killias. Auch ein "immaterieller Gewinn" könne die Absicht sein. Etwa ein höheres Selbstwertgefühl.


Natürlich kennt man das Thema längst. Ins breite Bewusstsein geriet es durch den Bestseller A Clockwork Orange, in dem Anthony Burgess 1962 das rätselhafte Phänomen beschrieb: Zufallsbrutalität, ausgeübt von sonst angepassten Jugendlichen, als Teil einer aufkommenden Freizeitkultur. Der Stoff, verfilmt 1971 von Stanley Kubrick, wird oft als negative Zukunftsvision verstanden, als Gegenutopie, in welcher der Traum eines Endes der Gewalt zerschlagen wird. Diese Zukunft ist für Viktor Bänziger eingetreten: "Dass das alles mal wahr wird, hätte ich nie gedacht, als ich den Film vor Jahrzehnten sah."


Ist A Clockwork Orange unsere Gegenwart? "Was mich so verwundert, ist, dass die Sache wirklich so öffentlich passiert", sagt Rogenmoser. "Alle sahen zu. Es gab da nicht mal eine Fluchtmöglichkeit, auch nicht für die zwei Täter. Und niemand schritt ein."


Ob bei Bänziger oder Rogenmoser, ob in München oder Locarno, die Fälle folgen einem Muster. Stets geht die Gewalt von kleinen Gruppen junger Männer aus, irgendwo zwischen späten Teenagerjahren und frühen Zwanzigern. Ganz öffentlich attackieren sie Unbekannte, oft ohne Provokation. Auf brutale Weise werden die meist männlichen Opfer malträtiert, ohne Waffen, aber mit Fußtritten und Schlägen auch gegen Kopf und Flanken.


Auch Raphael Rogenmoser hat von einer polizeilichen Ermittlung abgesehen. Die Polizei scheint ihm nicht die richtige Antwort zu sein. Der Kulturschaffende sieht individuellen und gesellschaftlichen Handlungsbedarf. Er hat das Gefühl, solche Täter würden eine Lücke ausnutzen, eine Unfähigkeit des Einzelnen im direkten Umgang mit Gewalt. "Gewalt wurde in unserer Jugend doch völlig tabuisiert. Unserer ganzen Generation wurde eingetrichtert: Du schlägst nicht. Ich weiß nicht mal, wie auf so etwas zu reagieren ist", meint er. "Wir sind leichte Ziele. Aber ich will mir nicht überlegen, ob ich einen Selbstverteidigungskurs nehmen soll. Meine größte Frage ist, worum es den Kids eigentlich geht."


Eine Bewegung spontaner Gewalt hat keinen Pressesprecher. Aber näher dran als Manu sind wenige. Der 20-Jährige mit den kurz geschorenen Haaren ist seit seinem 14. Lebensjahr "auf Action". Er sagt: "Eine gute Schlägerei kann dir viel bringen. Jahrelang." Manu hat viel geschlagen und gesprayt. Sein Sprühstil ist schlampig, "weil ich nie Kunst machen oder ein toller Sprayer werden wollte". Aber er war fleißig. Seinen Alias und die Namen der Gangs, in denen er war, liest man schweizweit und international auf Häuserwänden. Er sei nach Marseille, Barcelona, Berlin oder Lissabon gepilgert, traf dort Geistesverwandte.


"Ich schlage meistens mit Grund zu", sagt er. Der Grund sei sein Ruf.


In seiner letzten Bande – Crew – waren Jugendliche aus den verschiedensten Lebenswelten und Einkommensverhältnissen. Wirtschaftsstudenten und Lehrlinge. Muslime und Christen. Schweizerpässe und Ausländerausweise. "Einmal", sagt Manu, "war ich richtig high." Weil er auf einer Party von einem jüngeren Bekannten ganz vorsichtig gefragt wurde, ob es stimme, dass er schon einen umgebracht habe. "Ich war glücklich. So etwas würde ich ja nie machen. Aber der hatte so Respekt!"


Warum er einfach so zuschlage? Schon die Frage kann Manu nicht verstehen. Es gebe doch immer einen Grund: "Einer hat einen Aktenkoffer: Boah, schau, der ist reich! Einer sieht scheiße aus: Hey was guckst du so?" Wenn man aber erst zuschlage in der Gruppe, in der Öffentlichkeit, dann radikalisiere sich das schnell. Dafür gibt es laut Manu zwei Hauptgründe: Angst um das eigene Wohlergehen – und die Gruppe. "Man muss so lange zuschlagen, dass sich der andere nicht mehr wehren kann, nicht mehr die Polizei rufen kann. Man will ja nicht selber einen abbekommen. Daher ist man ja auch in der Gruppe, nicht alleine. Und man muss so krass sein, dass sich einfach niemand traut einzugreifen. Und dabei muss man den anderen in der Gruppe zeigen, dass man selber den Mut hat, hart ranzugehen, kein Feigling ist." Je krasser die Tat, desto mehr sorge sie auch für den Zusammenhalt der Crew.


Die Attacken genießt Manu nicht: "Ich habe eigentlich immer versucht, Gewalt zu vermeiden. Da musste ich mir manchmal Ausreden einfallen lassen, warum ich nicht zugeschlagen habe." Seitdem er von dem Fall in Hedingen las, bei dem ein 18-Jähriger in einer kurzen Keilerei einen 39-Jährigen umbrachte, weiß er: Ein Faustschlag kann töten. Das will Manu nicht.


Doch warum überhaupt die Gewalt? "Es ist halt irgendwie schon alles mal gemacht worden. Zum Beispiel beim Graffiti. Jede Stelle wurde schon mal bemalt. Man muss sich irgendwie was Neues suchen. Ich wollte auch immer Pionier sein." Ein Pionier: Das ist eine anerkannte Stellung in der Gesellschaft. Wieso dann mit Gewalt? "Frag mich doch nicht so. Ich kann dir auch nicht genau erklären, warum ich so bin", sagt er und reibt sich den Kopf. Dann kommt er mit einer Erklärung von Kids und Freiraum. Seit einigen Jahren arbeitet Manu als Freelancer im Grafikbereich. Der Job erfüllt ihn. Die Gang wird allmählich uninteressant.


Einmal sei er im Bahnhof von drei Typen angegriffen worden. Nach Hilfe gerufen habe er aber nicht. Es wäre vielleicht auch nicht so gut für seinen mühsam aufgebauten Ruf gewesen. "Reputation": Darum gehe es doch letztendlich, sagt Manu. Um den Ruf, der Krasseste zu sein.


Erster Schritt auf dem Weg zu diesem Ruhm ist der Straßenruf. Manus nasenbrechender Kopfstoß von vor einigen Jahren sei in seinem Umfeld immer noch Legende. Schritt zwei sei, von der Polizei abgeholt zu werden. Am besten mitten aus der Schulstunde; egal, ob es dabei "nur um ein Verhör" gehe. Nächster Schritt sei ein Artikel in der Zeitung. Am besten dort, wo alle es lesen. "20 Minuten oder so." Manu will gesellschaftliche Beachtung, doch irgendwie scheint die Werteskala dabei verrutscht. Wie stehen etwa die Tatverdächtigen von München da? "Die haben einen krassen Ruf. Megafame. Überall ihr Face. Wobei, ist schon scheiße, so lange im Knast. Weiß nicht, was der Ruf dann bringt. Was ist den Angegriffenen passiert?"


Einer hat bleibende Schäden im Gesicht. "Der Geschäftsmann? Das ist ja eigentlich nichts. Deswegen so lange ins Gefängnis!"


Dass bei den Attacken in München niemand starb, scheint reines Glück. Das deutsche Recht sieht für solche Verletzungen mit Inkaufnahme von Todesfällen Haftstrafen bis zu zehn Jahren vor. In der Schweiz wären es 4 Jahre.


"Bereust du deine Taten?" — "Reue", Manu lacht, "nein, nicht so richtig. Reue zeigt man bei Gericht." Man habe in der Crew über alles sprechen können, doch Reue sei kein großes Thema gewesen. Vor Kurzem sei ein Jüngerer auf ihn losgegangen. "Obwohl ich zwei Köpfe größer war. Die Jungen werden immer krasser. Ich musste ihm die Faust geben. Die Kleinen sind mutig."


Beim Abschied ruft er hinterher: "Ich bin ein Punk. Nur sieht man mir das nicht an." Punks geben keinen Pfifferling auf gesellschaftliche Anerkennung, heißt es doch.
David ist Mitte 20, knapp einsachtzig, keineswegs ein Schrank von einem Mann, blonder Bubikopf, eher unauffällig. Er ist Schweizer, wie seine Eltern, die beide im Sozialbereich arbeiten, "Alternative, Zürcher Mittelschicht". Der junge Mann ist der Polizei gut bekannt. Vorbestraft ist er nicht, und von der Gewalt haben die Behörden nichts mitgekriegt, doch Ermittlungen wegen Einbrüchen laufen. "Es fällt mir schwer, das Klauen zu lassen." Aber mit Gewalt sei Schluss.


"Irgendwann kam der Punkt", sagt David, "wo ich mir gedacht habe: Was ist, wenn einer verletzt wird und der wird nicht mehr? Ich meine jetzt nicht eine gebrochene Nase. Ich meine etwas, was man nicht mehr operieren kann. Willst du das?, fragte ich mich, morgens aufstehen und dir denken: Das war ich?" David sieht die Straßengewalt als Trend, als Mode. Er war selber Teil dieses Trends und hat weiter Kontakt mit "den Jungen".


"Du bist jung, verbringst deine Zeit mit deiner Gruppe, aber jeder Raum, in dem du bist, ist kontrolliert: im Club die Kamera, im Job wird auf dich aufgepasst, in der Schule, zu Hause, im Internet. Wir sind extrem behütet. Das ist ein Ding der Rebellion." Man suche Freiräume, wo man nicht überwacht werde, Räume, wo man sich frei und sicher fühle in der Gruppe. "Viele Leute, die so rumziehen, kommen ja aus, ich sag mal, dem Mittelstand, vielleicht auch aus einem alternativen Elternhaus. Die Eltern haben alle Freiheiten erkämpft. Und heute? Es gibt fast keine Tabus mehr. Es ist ja eigentlich alles erlaubt."


Doch der Kampf sei ewig. Immer habe es Männergruppen gegeben, die zum Kämpfen losgezogen seien: "Gewalt in der Gruppe, wir und sie, und dann: Pamm! Wir halten zusammen, wir schauen aufeinander." Er haut auf den Tisch. So sei das Gefühl dabei.


"Es ist schwierig, einen Grund für den Kampf zu finden. Such heute mal einen Grund! Es wird ja alles toleriert. Du darfst alles machen. Du kannst fast alles machen. Jeder hat fast alles. Jeder kann nach Lust und Laune leben. Aber Gewalt gegen Unschuldige, das ist ein echtes Tabu."


Es ist ein pervertierter Freiheitskampf, den David zu beschreiben scheint. Die Freiheit aus dem Tabubruch, aus der Grenzüberschreitung; auch die Freiheit, mit dem ersten Schlag eine Kette unabsehbarer Ereignisse auszulösen, im Gefecht einen Moment des Loslassens zu schaffen. Für David ist es nicht eine bestimmte Gruppe oder Schicht, von der alles ausgeht: "Es ist überall." Deswegen sieht er auch keine einzelne Gang als stellvertretend für das Phänomen an. Aber vieles finde in Gruppen statt. "Crews, also fest formierte Gangs, sind meist mehr Schein als Sein", sagt er. "Die konzentrieren sich um Einzelne, die besonders krass sind. Als Crew profitierst du von dessen Aktionen. Crews, vor allem wenn sie überall ihren Namen hinsprayen, sind einfach eine super PR-Sache."


Warum braucht man die Crew? "Weil man weiter gehen kann. Alleine kann niemand so weit gehen. Als Teenager braucht man die Gruppe."


Jede Gruppe sammle sich um ihr Thema, führt David weiter aus: Fußball; Hip-Hop; Techno; Ausländerausweis; Zürich-Affoltern. Und ihr Thema sei – nun: "Action machen. Irgendwohin gehen und alles aufmischen."


Das Aufmischen von Partys ist ein Ritual, dessen Details David auswendig herunterleiert. "Schau, du gehst irgendwo hin, eine Party, klaust beispielsweise eine Flasche, wirst erwischt. Jemand sagt: Gib sie zurück. Du gibst sie nicht zurück. Warum? Es passiert ja doch nichts. Jemand regt sich auf, dass du immer weitermachst, will dich rauswerfen, du schlägst zu."


Und mit der Zeit brauche man halt Krasseres. "Wenn du einmal eine solche Grenze überschritten hast, dann gehst du weiter. Zum Beispiel am helllichten Tag." Anonyme Freiräume finden sich im Fußballspiel, auf der Straße, im Ausgang, auf der Demo. Sobald man dort sei, werde irgendeine Gewalt entladen. David hält weder Computerspiele noch die soziale Herkunft dabei für entscheidend. Von seinen Bekannten, die "auf Action waren", habe sich keiner besonders für Games interessiert.
Auch wenn sie sich in den Zentren unserer Gesellschaft abspielen: Taten wie die von Tenero, Basel, München sind äußerst seltene statistische Randereignisse. Die Schläge aus dem Nichts schaffen ein Bedrohungsgefühl, aber sie treffen nicht jeden. Es scheint sogar ein recht klares Opferprofil zu geben. Vor allem junge Männer würden angegriffen, sagt Rolf Weilenmann von der Kantonspolizei Zürich. Doch in einem zweiten Sinn verbreitet sich dieses Phänomen im Zentrum unserer Gesellschaft. Die Motive der Gewalttäter spiegeln Kerndimensionen dessen, was das Zusammenleben ausmacht: Freiheit und gegenseitige Wertschätzung. Weshalb junge, aussichtsreiche Menschen wie David und Manu solche Mittel anwenden, um sich etwas zu erkämpfen, was eigentlich gegeben sein sollte: Das ist die wahre Frage.
Während einer Pause im langen Gespräch, in der Altstadt von Zürich, sagt Manu: "Zuschlagen ist ein einfaches Mittel. Das ist jedem zugänglich, da sind alle gleich."

Ein Mittel zu Anerkennung und Freiheit.

Zu günstig und zu teuer zugleich.

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