November 27, 2014

Der Amerikanische Freund

Sein Leben lang schwärmte mein Großvater von seinem Freund aus Amerika. Kurz vor dessen Tod erzählte mir "Uncle Bill", welche Interessen er noch verfolgte.

In seinen allerletzten Tagen, als meinem Großvater klar wurde, dass sein Leben bald enden würde, hatte er noch einen Wunsch an mich. Ich hielt seine Porzellanhand, sah in seine Augen, die ganz hellblau geworden waren, und versprach, dass ich diese Geschichte festhalten würde. Die Geschichte, wie er und sein Todfeind beste Freunde geworden waren.

Dieses Wunder ereignete sich 1958 in Tiffin, Ohio. Mein Großvater mütterlicherseits, Dr. Wolfram Graßegger, war in die USA gekommen, um sich auf seine neue Rolle als Direktor der traditionsreichen Nürnberger Maschinenfabrik J. G. Kayser vorzubereiten. Ein kräftiger,hochgewachsener Mann von vierzig Jahren, stets korrekt, stets in Anzug und Schlips, die Haareglatt nach hinten gelegt. Soeben war die Firma, in der er arbeitete, vom großen amerikanischen Konkurrenten National Machinery gekauft worden. Mein Großvater hatte Einsatzbereitschaft gezeigt und sogar in seinen Flitterwochen in Jugoslawien 1955 Geschäftstreffen angesetzt. In den USA sollte Wolfram Graßegger sich nun die neuesten Methoden des amerikanischen Managements aneignen. Deutschland war im sogenannten »Aufholwachstum«, der zweiten Phase des Wirtschaftswunders.

Wolfram Graßegger war die Verkörperung dieses aufstrebenden Industrielandes. Der ehemalige Oberleutnant aus bürgerlichem Hause hatte im Nachkriegsboom schnell Karriere gemacht. 1945 hatte er, als er, aus der Kriegsgefangenschaft kommend, durch die Trümmer seiner Heimatstadt Deggendorf irrte und das Elternhaus abgebrannt fand, entschieden, fortan den Blick nur noch nach vorne zu richten. Nachdem er 1946 im Entnazifizierungsverfahren freigesprochen worden war, begann er sofort sein Studium in München. Betriebswirtschaftslehre. 1949 schrieb er seine Doktorarbeit in nur sechs Monaten. 1952, mit 34 Jahren, erteilte sein Vorgesetzter ihm bereits Prokura. Der Nürnberger Maschinenhersteller Kayser war damals außerhalb der USA größter Produzent von Kaltumformungspressen zur Fabrikation von Verbindungselementen – jener Schrauben und Bolzen, die das Industriezeitalter zusammenhielten. Von Ost bis West. Vom Toaster bis zur Atombombe.

Es war eine neue Zeit. Wolfram Graßegger war gesund, erfolgreich und verliebt. Jede Woche schrieb er aus den USA zärtliche Briefe an seine Frau, in denen er sich auf seine triumphale Rückkehr als Direktor freute. Er begann sogar seinen Familiennamen an die amerikanischeSchreibweise anzupassen: aus Graßegger wurde Grassegger. In diesen Tagen geschah, womit er später seine niedergeschriebenen Erinnerungen beginnen lassen würde:

Wie jeden Mittag war ich mit der Verkaufsabteilung zum Essen in das führende Hotel am Platze gefahren und wurde wie immer zu den wichtigsten Kunden gesetzt, um sagen zu können, dass man jetzt mit einer Firma in Europa zusammenarbeite. Mein Gegenüber an diesem Tag war Präsident einer großen amerikanischen Schraubenfabrik und war gekommen, um weitere Maschinen in Auftrag zu geben. Es dauerte nicht lange, und wir waren in ein Gespräch verwickelt, wobei er sich vor allem dafür interessierte, woher ich käme. Als ich sagte, aus Süddeutschland und geboren in Regensburg, erzählte er, dass er da auch gewesen sei, als er mit der Vorhut der 3. US-Armee dort nach Süden vorstieß. Die Sache begann nun heiß für michzu werden, und ich fragte ihn, wo er denn über die Isar gegangen sei. Er sagte, dass man dort noch erbitterte Kämpfe hatte und schließlich bei Plattling unter Verlusten den Fluss überqueren konnte. Nun war es an mir, zu gestehen, hier meine letzte Schlacht geschlagen zu haben under den Kompanieführer dieser Infanterieeinheit vor sich habe. Es gab ein großes Hallo, und wirhaben auf dieses unerwartete Zusammentreffen einige Drinks genommen.

William A. Schmalz hieß dieser Amerikaner, damals Präsident der St. Louis Screw and Bolt Co.

Etwas kleiner als mein Großvater, mit einer spitzen Nase und einem schelmischen Lächeln. Ein typisch amerikanischer Selfmademan, der es im Laufe seines Lebens vom Schrotthändler zum globalen Investor bringen würde. Ihre deutsch-amerikanische Freundschaft würde erst mit demTod meines Großvaters enden. Der letzte Brief, den er schrieb, ging an seinen Freund Bill.

Was die beiden für immer verband, das haben sie aufgeschrieben, in einem dicken roten Lederordner mit goldenem Aufdruck: »Zufall?« Darin beschreiben sie den Moment, in dem sich ihre Wege zum ersten Mal gekreuzt haben, den 28. April 1945. Es geschah in den lichten Auenvor der Nibelungenstadt Plattling, nahe der Stelle, wo die Isar in die Donau mündet. Während Hitler im Führerbunker seine letzten Tage verbrachte, hatte Oberleutnant Wolfram Graßeggerden Befehl erhalten, das rasend schnelle Vorrücken von General Pattons 3. US-Armee in Richtung Süden zu stoppen. Mit einer eilig aus Jugendlichen und versprengten Wehrmachtssoldaten rekrutierten 120-köpfigen Einheit und ganz ohne schwere Waffen.

Das am nördlichen Flussufer liegende Plattling hatte sich in den Vortagen auf die Attacke derAmerikaner vorbereitet, Nazischergen hatten das mitten im Stadtkern liegende KZ geräumt, viele Bewohner waren geflüchtet. Der gerade einmal 27-jährige Oberleutnant Graßegger hatte sich auf dem Weg zum Einsatzort auf einen Kirchturm geschlichen, um noch einmal einen Blick auf das Haus der Eltern in Deggendorf zu werfen. Als er es am Horizont entdeckte, verspürte erplötzlich zum ersten Mal in seinem Leben die Angst, niemals wieder zurückkehren zu können.

In Plattling angekommen, sah er, dass die beiden Isarbrücken, die aus der Stadt über den Fluss führten, gesprengt worden waren, um die Amerikaner aufzuhalten. Allerdings war dabei nicht alles nach Plan gelaufen. Während die Fußgängerbrücke komplett zerstört worden war, war die Eisenbahnbrücke flach ins Wasser gefallen, aber zu Fuß passierbar geblieben. Bald hatten amerikanische Späher die Passage entdeckt. Das Wetter am 28. April war gut.

Die Attacke startete im Morgengrauen.

Als wir, über die Brücke kommend, angriffen, gab es intensiven Widerstand mit kleinkalibrigen Waffen, schreibt Bill im roten Ordner. Aber nur kurz. Unterstützt von schweren Waffen undPanzern mit 90-mm-Geschützen passieren wir die Brücke mit nur etwa zwanzig MannVerlusten.

Meine Einheit ist nach kurzem Widerstand am Morgen komplett ausgelöscht, notiert mein Großvater.

Oberleutnant Wolfram Graßegger verharrt mit ein paar Verwundeten und Versprengten in einem leicht zurückversetzten Häuschen in den Auen, ganz in der Nähe des heutigen Friedhofs. Es ist knapp 17 Uhr. Seine Kameraden bitten ihn, aufzugeben. Er schleicht in den ersten Stockund wagt einen Blick aus den Fenster: Mit einer Maschinenpistole in der Hand schaue ich auf einen kleinen Weiher, an dessen Ufer eine ganze Menge amerikanischer Soldaten liegen, die ineine andere Richtung schauen. Ich war ein wenig höher als sie, also in einer Position, in der sie vollkommen ungeschützt in einer Entfernung von etwa 30 bis 50 Metern lagen.

In diesem Moment liegt wahrscheinlich Bills Leben in Wolframs Händen.

Am Fenster stehend, wird meinem Großvater klar: Würde er schießen, wäre das sein Ende. Er würde ein paar Amerikaner am Tümpel töten. Und mit Sicherheit würden andere Amerikaner mit Granaten antworten. Es wäre auch sein sicherer Tod.

In diesem Moment treffe ich die Entscheidung meines Lebens und entschließe mich, nicht zufeuern und die Leben von ein paar Menschen dort und wahrscheinlich meines und das der paar Männer, die mit mir im Posten waren, viele davon verwundet, zu retten. In dieser Situationwollte ich kein Risiko mehr eingehen und sagte meinen Leuten daher, wir sollten die weiße Flagge raushängen und uns ergeben.

Er schmeißt die Maschinenpistole aus dem Fenster. Die deutschen Soldaten treten der Reihe nach mit erhobenen Händen aus der Tür. Genau als ich das Haus verlasse, zischt ein paarZentimeter neben meinem Kopf eine Kugel vorbei und bleibt im Türrahmen stecken.

Die Gefangennahme war der Moment, in dem Wolframs Leben in Bills Händen lag, denn wie sich später in Tiffin herausstellen wird, war Bill Schmalz Teil der Truppe, die Wolfram Graßegger gefangen nahm. Wer geschossen hat, bleibt bis heute unklar. Für beide, Bill und Wolfram, ist es der letzte Kampfeinsatz. Staff Sergeant William A. Schmalz zieht eilig weiter, seine Division hat sich um Tausende Kriegsgefangene zu kümmern.

Mein Großvater verliert bei dieser Schlacht seine Armbanduhr, ein G. I. nimmt sie ihm ab. Als der Deutsche in einem Anflug von rechtsstaatlichem Idealismus versucht, den Diebstahl mit dem Verweis auf die Genfer Konvention zu verhindern, lachen die G. I.s.

Mein Großvater liebte die Armbanduhr-Story. Sonst konnte er von seinem Krieg ja nicht vielerzählen. Nicht nur war er auf der Verliererseite gewesen. Sondern auch auf der Seite des Bösen. Seine Offiziersmütze sandte er Jahrzehnte später zu Bill. »Ich glaube, niemand in meiner Familie will sie haben«, schrieb er.

Aus Pazifismus war die Völkerfreundschaft seitens meines Großvaters sicher nicht geboren. Als die Freundschaft mit Bill begann, hatte er endlich jemanden, mit dem er offen sprechen konnte. Gemeinsam konnten sie das tun, was sie bisher vermieden hatten: zurückschauen.

Oft besuchten die beiden die alten Schlachtfelder. Wolf, wie Bill ihn stets nannte, zeigte ihm die Stationen seines Frankreich-Feldzugs. Sie machten ihre Krieger-Freundschaft öffentlich, besuchten am 20. und 50. Jahrestag ihrer Schlacht ganz offiziell Plattling, wie Zeitungsberichteaus St. Louis und dem Plattlinger Anzeiger belegen.

Als Kind brachte Opa mir in seinem weitläufigen Garten bei, wie man mit der Pistole, die er sichbeschafft hatte, Walnüsse vom Baum schoss. Die Munition schmuggelte er aus der Schweiz ein.Das erzählte er natürlich niemandem. Im Krieg hatte er gelernt zu schweigen.

Im Kapitel Erkenntnisse und Bekenntnisse seiner Memoiren bekennt er: nichts. Außer dass der einzige Weg zum Glück die Marktwirtschaft sei. Im Grunde war mein Großvater ein deutscher Idealist. Ein Idealist der Marktwirtschaft. Dunkelblauer Mercedes. Dunkelgrüner Lodenmantel. Dunkelgraue Deals. Die Geschäfte liefen gut. Und Deals zu machen war moralisch. Nach dem Glauben an Gott kam für meinen Großvater der an die Marktwirtschaft.

Mit dem überzeugten Republikaner Bill teilt er nicht nur die Kriegserfahrung und die Lebenshaltung. Beide arbeiten international und in hohen Positionen in der gleichen Branche: Verbindungselemente.

Sie unterstützen sich geschäftlich. 1968, bei der Bewerbung für seine nächste Direktorenstellebei der – heute noch existierenden Schraubenfirma – Kamax AG führt Dr. Wolfram Grassegger Herrn William A. Schmalz als Referenz in seinen Bewerbungspapieren an. Er bekommt den Posten.

Mein Großvater hat besonders gute Verbindungen in den Osten. Er kennt die UdSSR, hat Freunde in der ČSSR, in der DDR. Es ist die Zeit des Ostembargos. Immer wieder gibt es veränderte Handelsschranken. Westliche Unternehmen versuchen dennoch ständig,Verbindungen zum Ostmarkt zu knüpfen. Werkzeugmaschinen fallen als strategische Güterteilweise unter das Embargo. Jugoslawien mit seinen Verbindungen nach Ost und West ist derOrt, an dem man das Exportverbot umgehen kann. Ich finde den Durchschlag eines Briefes von 1968, in welchem mein Großvater einem jugoslawischen Schraubenproduzenten ein paar Fragen nach spezifischen Schraubentypen stellt – für Bill, der angeblich importieren will. Andere Papiere meines Großvaters zeigen eine Marktübersicht der Schraubenproduktion im Ostblock Anfang der siebziger Jahre, inklusive Namen verantwortlicher Personen. Geschäfte,glaubten manche damals, würden helfen, die Mauer eines Tages zu durchbrechen. Geschäftewaren gut. Geschäfte waren eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – so begriff es damals der Wirtschaftsverbund des Ostblocks, der Comecon, so sah es auch mein Großvater.

Wie eng ihr Kontakt war, belegen auch die 15 Einträge Bills im Gästebuch meiner Großeltern. Auch Wolfram besucht Bill öfter in den USA. 1973 schickt er sogar sein erstgeborenes Kind zueinem Austauschjahr zu Bill nach St. Louis, Missouri. Bill Schmalz gehörte bald zur Familie, sodass ihn alle Uncle Bill nannten. Jenes für uns legendäre Ehren-Familienmitglied, das einstgekommen war, um meinen Opa zu töten, und den zu töten mein Großvater den Auftraggehabt hatte.

Es war wie ein Wunder, und Uncle Bill konnte auch Wunder wirken. Er hatte zum Beispiel Superkräfte.

Als eine Schwester meiner Mutter als Teenager Mitte der Siebziger in Asienverschwand, weil sie sich in eine Kommune absetzen wollte, fragte Wolfram seinen Freund Billum Rat. Und Uncle Bill brachte meine Tante zurück. Wie, das habe ich nie erfahren. Ich bin damit aufgewachsen, zu glauben, dass es normal ist, dass Amerikaner Außergewöhnliches bewirken können.

Wenn Bill zu Besuch war, schloss mein Großvater die Türen, damit die beiden sich ungestört unterhalten konnten. »Bill wusste mehr als wir alle über deinen Großvater«, sagt eine meiner Tanten heute.

Sie unterhielten sich über alles. Politik, Geschäfte, Krankheiten, Familie, Erbfragen, die immer rarer werdenden Freunde und immer wieder: den Krieg.

Nach dem letzten Besuch Bills bei meinem Großvater im Jahr 1998 führten die beiden ihre Freundschaft auf die Distanz weiter. Schon in den späten sechziger Jahren hatten sie einen intensiven Briefwechsel begonnen, den die beiden sparsamen und viel beschäftigtenTechnikfreunde später mittels hin- und hergesandten Tonbandkassetten und ab etwa 2000 via E-Mail fortführten. »Deine Alte Freund Willhelm«, unterzeichnet Bill die Nachrichten an »Wolf«.Im Herbst 2010 stirbt mein Großvater.

Beim Durchgehen seiner Papiere fällt mir ein Detail auf. Die Einträge im Gästebuch zeigen Bills ersten Besuch im Jahr 1965 an. Sieben Jahre nachdem sie sich bei dem Geschäftsessen in den USA kennengelernt hatten.

Ich finde eine Kopie eines Zeitungsberichts aus St. Louis: »G. I. und Feind besuchen Ortbayerischer Brückenschlacht« lautet der Titel. Erscheinungsdatum ist der 8. November 1965. Daraus geht hervor, dass die Freundschaft von Uncle Bill und meinem Großvater noch einesweiteren großen Zufalls bedurfte:

Während einer Geschäftsreise im Jahr 1964, so der Bericht, besuchte William A. Schmalz eine Maschinenfabrik in Nürnberg. Dort habe er plötzlich einen vertrauten Namen an einer Türgesehen: Dr. Wolfram Grassegger. Der Mann, den er damals in Tiffin, Ohio kennengelernthatte. Er habe Grassegger eine Visitenkarte bringen lassen und dann einen Aufschrei gehört. »Wie eine Gazelle« sei Grassegger aus dem Büro gesprungen, heißt es in dem Artikel. »Ich glaube«, wird Bill zitiert, »ich habe den Kontakt nicht gehalten, weil ich es schlicht für unmöglich hielt, je wieder nach Deutschland zu kommen. Obwohl ich schon lange davongeträumt habe, die alten Schlachtplätze des Zweiten Weltkrieges wiederzusehen. Aber der Geschäftsverlauf machte es möglich, und im März oder April letzten Jahres kehrte ich nach Deutschland zurück.«

Im Herbst 2011, knapp ein Jahr nach dem Tod meines Großvaters, folge ich seinem letzten Wunsch und fliege nach St. Louis. Uncle Bill hatte mich eingeladen. Von Wolfs Plan, allesfestzuhalten, war er begeistert. Er habe viel zu erzählen, schrieb er. Es ist das erste Mal, dass wir uns treffen.

Weite Teile von St. Louis sind völlig verfallen. Es sieht aus wie in Detroit. Oft ist da einfach nur noch Gras mit verwitterten Straßen dazwischen. Das Industriezeitalter ist vorbei an diesemOrt.

Bills Villa liegt in einem gepflegten Vorort, versteckt in einem Waldstück. Er ist ein kleiner Mannmit spitzer Nase und listigem Blick. Er trägt ähnliche Khakihosen, ein ähnliches kariertes Hemd,eine ähnliche Hornbrille, wie mein Großvater sie trug. Im Wohnzimmer hängen Jagdgewehre an der Wand, Abschlussbilder von der Militärakademie, ein Bild mit einem Porträt von Bill als jungem Soldaten. Er stand ja auf der Gewinnerseite. An seiner Wohnzimmerwand hängt das Stickbild eines deutschen Schäferhundes. Und eine Flagge: Westpreußen.

»William – Wilhelm. Du verstehst? Ich bin ein Deutscher. Zweifelsohne«, sagt er und lächeltmich freundlich an. »Schon mein Vater hatte einen deutschen Namen. Henry – Heinrich. Undmeinen Sohn habe ich Robert genannt.« Seine Familie sei aus Deutschland eingewandert. »Ich hätte im Krieg auch auf der anderen Seite sein können.« Ich erzähle ihm, dass Wolframs Mutter bis kurz vor seiner Geburt 1918 in New York gelebt hatte. Er nickt. Wolf hat es ihm erzählt.

Im Keller hat Bill sein Archiv. Dort steht eine Werkbank mit säuberlich aufgereihten Werkzeugen und kleinen Schubladen mit den Verbindungselementen, den Schrauben, um diesich die Leben der beiden gedreht haben. Es sieht genauso aus wie im Keller meines Opas.

Je mehr Bill erzählt, desto klarer wird mir, wie verblüffend ähnlich sich Bills Leben und das meines Großvaters sind. Wie mein Großvater hatte Bill versucht, dem Krieg zu entkommen. Dem schnellen Tod als einfacher Soldat wollten beide mit der gleichen Strategie entgehen: freiwillige Meldung zur Luftwaffe, dem sichersten Ort im Krieg. Als sie beide für untauglich erklärt wurden, flüchteten sie sich in Offizierslehrgänge. Daher begann für die beiden Männerder Kampfeinsatz auch etwa gleichzeitig, im Sommer 1944. Nach dem Krieg schlossen beide eilig ihr Studium ab und landeten in derselben Branche. Sie wirken wie Spiegelbilder. Oder Zwillinge.

»Bist du eigentlich auch so religiös, wie mein Großvater es war?«, frage ich.

»Lass mich dir was über Wolfram erzählen. Wir sind sonntags zusammen zur Kirche gegangen.Wir kamen zusammen durch den Haupteingang. Acht Minuten später sind wir durch dieSeitentür verschwunden. Und das nicht nur einmal.«

Er führt mich in ein Zimmer, dessen Fensterfront auf den Fluss hinausgeht. An der Wand hängtein Blechschild: »Deutschland dreigeteilt? Niemals!« Die Wiedervereinigung Deutschlands und der Zusammenbruch des Kommunismus waren der Lebenstraum meines Großvaters. Er hätte alles dafür getan. »Das Schild hat dein Großvater für mich von einer Wand geholt, als wir daran vorbeigefahren sind. Auf dem Weg in die DDR. Ich dachte, sie verhaften ihn dafür.« Bill lächelt. »Schau«, sagt er, »was Wolf mir geschenkt hat. Ich soll darauf aufpassen.« Es ist die graue Offiziersmütze meines Großvaters. »Ich denke, er hätte genauso gut Amerikaner seinkönnen. Aber es gab eine Zeit, als wir uns gegenseitig ohne Zögern umgebracht hätten.« Als Bill beginnt, von seinen Deutschland-Erfahrungen zu sprechen, frage ich mich, wie er sich danach mit einem Deutschen anfreunden konnte.

Im Morgengrauen des 5. August 1944 sprang er aus einem Landungsboot und schleppte sichdurch das kalte Atlantikwasser an die französische Küste. Um ihn explodierten die Wasserminen, die die Deutschen gelegt hatten, und rissen seine Kameraden in Fetzen. Wehrmachtflieger beschossen die Amerikaner mit Maschinengewehren. Leichen amerikanischer Soldaten überall.

Sein Weg über Luxemburg in Richtung Jena war ein fast pausenloses Töten und Sterben. Während die Amerikaner vorankamen, zerfiel die militärische Ordnung des Gegners. Zunehmend setzten die Deutschen auf Überraschungsangriffe. »Im Krieg bist du tot, wenn du nachdenkst«, sagt Bill. »Dauernd gab es Hinterhalte. Manchmal lockten sie uns in Dörfer, und dann fielen sie dir in den Rücken mit ihren guns: brrb, brrb«, er macht das Geräusch der todbringenden Maschinenpistolen nach.

Irgendwann kannte Bill kein Zögern mehr. »Ich lief durch ihre Siedlungen, und selbst wenn aus dem Fenster eine weiße Flagge hing und ich hinter dem Fenster eine Mutter sah, die ihr Kindhielt – sobald ich den leisesten Zweifel hatte, schmiss ich eine Granate rein.« Er schaut mir in die Augen. »Und du weißt, was Granaten mit Menschen machen.«

Auf flüchtende Soldatenschossen die Amerikaner erbarmungslos. »Um zu verhindern, dass sie sich weiter hinten wieder zusammenschlossen. Besser, es war schnell vorbei.« Sein 1st Batallion of the 319th Infantry of the 80th Infantry Division nahm mehr Gefangene, als irgendjemand vorhergesehenhatte. Manchmal hörte Bill hinter der Frontlinie seiner Truppen Schüsse. Er wusste: Dann gab es ein paar Gefangene weniger.

Eine Woche nach der Gefangennahme meines Großvaters, am 6. Mai 1945, war Bill inÖsterreich. »Im Nebel tauchten Flammen auf, hinter einem Wald. Nicht weit von den Schienen, auf denen wir unterwegs waren. Wir näherten uns und erkannten, dass es ein Lager war. DasKZ Ebensee. Die Nazis hatten es auf der Flucht in Brand gesteckt. Drinnen lagen Menschen in Haufen aufeinander. Leichen und Lebendige. Ich hatte nicht geahnt, dass es so etwas gibt.«

Im Dezember 1945 kehrt Bill aus dem Krieg zurück. Nach dem Studium fängt er bei einem Metallhändler an. »Anfang der fünfziger Jahre verstand ich, dass die Welt bald ein großer Markt werden würde. Ich wusste, da wollte ich dabei sein.« Bill kam zu St. Louis Screw & Bolt,manchmal war er wochenlang weg, um Partnerschaften in anderen Ländern anzubahnen. Auf den Rückflügen fasst er seine Erlebnisse zusammen, schreibt Reports über den Zustand der Branche im Ausland.

»Und wie war das, als ihr euch 1958 in Ohio bei dem Firmenessen kennengelernt habt?«, frageich.

»Da war ein großer runder Tisch, mit Flaggen für die Nationen der Besucher. Ich sah einedeutsche Flagge und habe sie neben meine gestellt. Ich wollte mich mit dem Deutschen unterhalten. Ob er auch im Krieg gewesen ist. Dann fanden wir raus, dass wir in derselben Schlacht gekämpft hatten! Nur, 1958 hatte ich einfach kein Verlangen, jemals nach Europa zurückzukehren. Dann habe ich seine Visitenkarte verloren und seinen Namen vergessen.«

1961, zwischen dem ersten und dem zweiten Treffen, wird die Mauer gebaut. 1963 entgeht die Welt bei der Kubakrise knapp dem Atomkrieg. 1964 trifft Bill meinen Großvater in Nürnbergwieder.

»Und warum seid ihr Freunde geworden?«, frage ich weiter und versuche zu verstehen, was zwischen den beiden Männern passierte, wenn sie zu zweit waren. »Habt ihr euch viel überPolitik unterhalten?«

»Wolf stammte aus einer wohlhabenden Familie. Ich nicht. Aber ich fühlte mich ihm nahe, alser erzählte, wie er sich nach dem Krieg hocharbeiten musste. So wie ich. Wir haben nicht viel über Politik gesprochen. Es gab andere Sachen. Unsere Freundschaft beruhte auf der Kriegszeit.«

Wir gehen nach oben. Bill holt eine Videokassette hervor. Es ist die Aufzeichnung seines letztenBesuches bei seinem Freund Wolf im Jahr 1998. Die beiden, nebeneinander am runden Esstisch meiner Großeltern. Es ist ein langes Gespräch. Bill befragt Wolf zum Krieg. Und mein Opa antwortet auf jede Frage. Er erklärt, wie er von den Wandervögeln zur Hitlerjugend kam.

»Bei uns gab es damals das Civilian Conservation Corps für junge Leute, das war ganz ähnlich«, sagt Bill. »Warum habt ihr euer Treffen gefilmt?«, frage ich. Bills Blick bleibt auf das Video gerichtet: »Es war einfach eine Möglichkeit. Ich hatte die Kamera. Wie viele Menschen haben denn die Möglichkeit sich hinzusetzen und einen«, er zögert, »einen Feind zu interviewen?«

Im Video kommen meinem Großvater die Tränen, als er erzählt, wie seine Mutter ihn einesTages bei der Hitlerjugend abholte und den Slogan sah: Wir sind geboren, um für Deutschland zu sterben. Bill reicht ihm ein Taschentuch.

»Wolf hatte keine Wahl«, sagt Bill.
»Wie oft seid ihr zusammen gereist?«, frage ich.»Ich schätze so 15 Mal.«
»Ferien oder Dienstreisen?«

»Nichts davon war Urlaub! Manchmal haben wir über den Krieg geredet, manchmal Geschäfte gemacht. Ich bekam über Wolf die Gelegenheit, Banker, Rechtsanwälte und Zulieferer aus Nordirland, Russland und anderen Ostländern kennenzulernen und sie zu fragen, was die Einstellung von bestimmten Ländern zu bestimmten Fragen war. Und diese Fragen wurden mir aus Washington gegeben.«

Einer der Bände, in denen Bill sein Leben beschrieben hat, beginnt damit, dass er 1969 auf dem Rückflug von einer Geschäftsreise ist. Wieder einmal fasst er seine Eindrücke von Besuchen in verschiedenen Fabriken im Ausland zusammen. Ein Generalmajor der US-Armeesitzt neben ihm. Der Generalmajor spricht ihn an. Ob er denn auch im Krieg gewesen sei? Der Mann und Bill reden lange über den Krieg. Die ganze Zeit starrt der Generalmajor auf BillsNotizen. Und dann sagt er zu Bill, dass dieses ganze Wissen, das er da sammle, von Interessefür das Vaterland sein könnte.

»Du musst verstehen, ich habe mich nicht freiwillig gemeldet«, sagt Uncle Bill. »Ich habe deinen Großvater nicht benutzt. Es ging nie darum, wer er war oder was er tat. Aber darum, an wen die Firma, die er leitete, ihre Waren verkaufte. Weil mir das Hinweise darüber brachte, ob die Abnehmer Waffen produzierten statt Autos. Ich habe ihn nicht missbraucht«, sagt Uncle Bill. »Nicht einmal meine Familie wusste davon. Und auch ihm habe ich nie gesagt, dass ich für die CIA gearbeitet habe.«

Es gibt eine Mail, vom 9. Oktober 2003, in der Bill seinen Freund Wolf vor Terroranschlägen warnt. »Ich weiß das von gewissen Behörden. Und eines Tages werde ich dir sagen, wer diese Behörden sind«, schrieb er. Nachgefragt hat mein Großvater nicht. Aber er hat Angela Merkelseine letzte Stimme gegeben. Und die hat ja gesagt, dass das mit dem Abhören unterFreunden gar nicht gehe. William A. Schmalz war aber viel mehr als ein Freund. Uncle Bill war Familie.

2013 ist er im Alter von 92 Jahren gestorben.

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