November 18, 2017

12.000% Profit

Wie ich in die Digitalwährung Ether investierte. Und beinah den Verstand verlor

Ende Januar 2016 beschloss ich, endlich vernünftig zu werden und mit dem Sparen anzufangen. Auf dem Bankkonto ist das natürlich sinnlos, weil es keine Zinsen mehr gibt. 

Für Aktienkäufe war mein Kapital ziemlich gering: 500 Franken. Zudem hatte ich in meinem Leben zu viele Nachrichten über Kursstürze und platzende Blasen gehört. Und was wäre schon das Resultat? Im allerbesten Fall, bei mörderischen 20 Prozent Rendite, 100 Franken Gewinn im Jahr. Und zwar dafür, dass man schlimmstenfalls die Angestellten der Unternehmen, in die man investiert, auch noch auspresst wie Zitronen? Aktien schieden somit für mich aus. Zu riskant, zu wenig Profit, zu böse. 

Ich entschloss mich, Digitalgeld auszuprobieren. Ich hatte einmal in einem Café eine Philosophiestudentin kennen gelernt, die mit Bitcoins Zehntausende Franken gemacht hatte. Man hört ja überall von Kryptowährungen. Dieses Digitalgeld, das statt aus unfälschbarem Notenbankpapier aus angeblich unknackbarem Computercode besteht, abgespeichert im Netz. Wenn ein Stück Papier viel wert sein kann, dachte ich mir, wieso dann nicht auch ein paar Zeilen Code? 

Weil ich keine Ahnung hatte, wie ich an Kryptogeld kommen könnte, rief ich einen befreundeten Hacker an. Der war offiziell bettelarm. Allerdings hatte er in seiner Sozialwohnung einige Festplatten voll Digitalgeld, was niemand wissen konnte – diese Geldgeschäfte sind diskreter als jeder Bank-Wegelin-Berater. Dazu später mehr. 

Erst mal trafen wir uns an einem Samstagnachmittag in einem Café. Ich sollte meinen Rechner mitbringen. Mein Freund würde das Digitalgeld für mich kaufen, sagte er. Ich solle ihm später den Gegenwert überweisen. Dann fragte er, was genau ich haben wolle. Ether, sagte ich. Für 500 Franken. 

Ether war eine von mittlerweile Dutzenden Digitalwährungen. Die meisten sind schlicht Bitcoin-Klone. Die Schöpfer des Ether aber hatten sich die Mühe gemacht, ihr eigenes System namens Ethereum aufzubauen. Ihr Traum war ein besseres Bitcoin. 

Ethereum kannte ich, weil ich über den Erschaffer, ein damals 21-jähriges Wunderkind namens Vitalik Buterin, ein Porträt geschrieben hatte. Buterin war sich seiner Sache absolut sicher: Er wollte ein völlig neuartiges Netzwerk für Wertflüsse aufbauen. Ether, die Währung, sei dabei nichts als das Wasser in den digitalen Kanälen des neuen Systems namens Ethereum. Ether sei nicht als Zahlungsmittel oder zur Spekulation gedacht. Buterin hatte mir sogar abgeraten vom Kauf. Es gehe ihm vielmehr darum, das Geld abzuschaffen und die Banken noch dazu. Er war ein digitaler Lenin. Sein Nerdteam hatte einen guten Eindruck gemacht. Es waren sogar Frauen darunter. 

Viele meiner Bekannten hält das Technikgelaber im Netz davon ab, Digitalgeld zu kaufen. Es macht ihnen Angst, vielleicht fürchten sie, zu dumm dafür zu sein. Wenn man sie auf Digitalgeld anspricht, heben sie warnend den Finger und fragen, ob man das denn auch technisch verstehe. Das ist, als ob man ein Auto erst fahren dürfte, wenn man den Motor erklären kann. Selbst Bleistifte wären für die meisten tabu, wenn man es so sieht. 

Tatsächlich funktioniert unsere hoch entwickelte Welt nur deshalb, weil wir Sachen nutzen, ohne sie zu verstehen. Stellen Sie sich vor, Menschen würden ihre Computer erst benutzen, wenn sie programmieren können. Die Welt würde stillstehen. 

Praktisch ist es so, dass man völlig problemlos Ether und Bitcoin kaufen und verkaufen kann, ohne einen Schimmer davon zu haben, wie das Zeug technisch funktioniert. Es ist sogar einfacher, als am Markt Äpfel zu verkaufen. Nur der Start ist ungewöhnlich. Als ich Vitalik Buterin Mitte 2015 traf, lag der Kurs bei 1,33 Franken. «Ether liegt zurzeit bei 2,67 Franken», stellte mein Freund im Café fest. Es war Februar. Der Wert hatte sich also innerhalb von sechs Monaten verdoppelt. Ich nickte. Er eröffnete etwas, das aussah wie ein Mailkonto. Eine digitale Geldbörse, Wallet genannt. «Irgendwo muss ich dein Geld ja hinschicken», sagte mein Freund. Er öffnete ein Textdokument und kopierte die Adresse meiner digitalen Geldbörse hinein: 0xb32b63a61be2f4b3525a2ca c1d1e56685abf9e58 Der Code war ein Nummernkonto, bloss im Internet. Ein Konto innerhalb der legendären «Blockchain». Die Blockchain ist nichts anderes als ein für alle einsehbares weltweites Kontobuch, das stets verzeichnet, wie viel Guthaben auf welchem Nummernkonto gerade liegt. Millionen von Rechnern haben allesamt identische Kopien dieser Datenbank – als Sicherungskopie. Die Blockchain funktioniert so, als sässen alle Leute im Kreis um ein grosses Lagerfeuer herum, und wenn einer einem anderen was gibt, dann bekommen das alle mit und merken es sich. Dadurch ist das System praktisch unhackbar. Jede Digitalwährung beruht heute auf der Blockchain. 

Weil dieses Kontobuch – ganz im Gegensatz zu meinem Bankkonto – öffentlich ist, kann jeder, der irgendwoher meine digitale Kontonummer kennt, sehen, dass dort am 9. Februar 2016 um 14:15 Uhr 187.74082 Ether eingegangen sind. Dazu müsste man nur meine Kontonummer in Etherscan. io eingeben. 

Mein Freund kopierte mir noch zwei Passwörter in mein Textfile.

«Die Passwörter brauchst du, um das Geld bewegen zu können. Du darfst sie niemandem zeigen.» Am besten sollte ich sie ausdrucken und dann vom Computer löschen. Es gebe Unmengen digitaler Taschendiebe, die nur darauf warteten, Anfängern wie mir die Konten leer zu räumen. Zwar kann kein Hacker verändern, was im grossen Blockchain-Buch steht, und sich so einfach Geld verschaffen, aber Zugangsdaten zu virtuellen Geldbeuteln kann man so leicht klauen wie Passwörter eines Mailaccounts. 

Lektion 1: Das Internet ist so sicher wie Somalia.

Sicherungskopie an die Eltern

Ich nickte und speicherte das Textfile in einem schwer auffindbaren Unterordner auf meinem Computer und zahlte den Kaffee. Zu Hause machte ich sofort einen Ausdruck. Und gab dem Ordner sicherheitshalber noch einen unauffälligen Namen: ET. Aber was, wenn meine Wohnung abbrennen würde. Inklusive Rechner und Ausdruck? Ich schrieb meinem Freund ein SMS. Er riet mir, Sicherungskopien auf Sticks an meine Eltern zu senden. 

Lektion 2: Absolute Sicherheit gibt es nur bei den Eltern.

Seit Bitcoin Ende 2008 eingeführt wurde, gibt es Nummernkonten mit Bitcoin-Beträgen, die Hunderte Millionen Franken wert sind, aber noch nie angerührt wurden. 64 Prozent aller Bitcoins wurden noch nie benutzt. Hier die Spekulationen dazu: 1. Das Geld gehört dem legendären anonymen Bitcoin-Gründer, der bald einer der reichsten Menschen sein könnte (falls es ihn gibt und er am Leben ist). 2. Die Konten gehören Leuten, die Bitcoin mal ausprobiert und dann ihre Passwörter verloren haben. Konnte ja keiner ahnen, dass für absolut nichts verwendbare Zahlenund Buchstabenkombinationen irgendwann mehr als 7000 Franken pro Einheit wert sein würden. 

Seit dem Erfolg von Bitcoin gibt es immer wieder Leute, die eigene, neue Währungen kreieren. Auch sie hoffen dann auf einen «Moonshot». Immer wieder klappt es. Sogar der trotzige Programmierer von Dogecoin, einer Digitalmünze mit Hundelogo, gedacht als Persiflage auf den Bitcoin-Hype, wurde unverhofft reich. Die Leute kauften das Zeug einfach. Allein schon der Begriff Kryptowährung lockte sie. Jene, die früh und billig kauften, gewannen am meisten. Eine neue Klasse Reicher entstand: die Kryptomillionäre. Unter ihnen sind die Bitcoin-Millionäre die Gründerväter. Die meisten von ihnen waren Kiffer, so faul und ängstlich, dass sie ihre Drogen lieber im Netz als auf der Strasse kauften. Und mit Bitcoins zahlten, weil die Polizei diese im Gegensatz zu anderen Zahlungsmethoden nicht nachverfolgen konnte. Irgendwann merkten die Kiffer, dass der Handel mit Geld mehr kickt als Drogen. Eigentlich ist Bitcoin selber eine Droge. 

Die Ether-Spekulanten, stellte ich fest, waren eigentlich Tech-Utopisten. Sie glaubten an eine bessere Zukunft und an die Genialität des jugendlichen Ethereum-Gründers. 

Ich für meinen Teil dachte, es sei zu spät für spektakuläre Gewinne. Und sowieso: 500 Franken. Ich dachte eigentlich gar nicht viel. Für mich hatte Ether einfach das beste Logo aller Kryptowährungen. Eine blaugraue Raute, bestehend aus mehreren Dreiecken. Sehr chic. 

In den kommenden Wochen verfolgte ich gelegentlich, wie sich der Ether-Kurs entwickelte. Ich googelte «ETH CHF Chart» und fand Webseiten wie Coingecko, die mir zittrige Kursanstiege zeigten. Mein Investment vervierfachte sich. Mitte März 2016 waren aus meinen 500 Franken 2000 geworden. Aktienmarkt und Bausparvertrag hatte ich schon mal überflügelt. Fröhlich postete ich einen Screenshot auf Instagram und bekam ein paar «Likes». Ich fragte mich, ob ich wieder verkaufen sollte. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie. Meinen Hackerfreund wollte ich nicht schon wieder stören. Ein anderer Freund, der vor Jahren aus dem Kryptozocken ausgestiegen war, riet mir, sofort alles zu verkaufen oder einfach meine 500 Franken auszulösen und den Rest sozusagen kostenlos liegen zu lassen.Kryptowährungen seien ein grosser Betrug. Er selber sei einmal ein solcher Betrüger gewesen. Ein «Whale», Walfisch, wie man die Besitzer grosser Mengen nennt. Man verabrede sich in Chatforen, beschliesse einfach, den Wert einer bestimmten Währung hochzutreiben, indem man sie gemeinsam einkaufe. «Pumpen» heisst das. Und dann, plötzlich, auf ein verabredetes Zeichen hin, würde die ganze «Pumpgroup» gleichzeitig verkaufen. Es sei immer das Gleiche. Die Whales hätten riesige Gewinne. Alle anderen verlören. Er hatte jahrelang gelebt wie ein Millionär. Am Ende sei ihm nichts geblieben ausser einem Koksproblem. 

Ich zögerte. Ich hoffte auf weitere Gewinne. So begann die Gier.

Wie zur Strafe kollabierte der Kurs. Vier Wochen später hatte ich nur noch umgerechnet 1000 Franken. Es folgte ein Debakel ums andere. Ein grosses Ethereum-Projekt wurde gehackt, mehr als 50 Millionen Dollar entwendet. Das führte zu einem Krieg unter den Entwicklern. Was zur Spaltung der Währung führte: Ether (ETH) und Ether Classic (ETC). Was wiederum dazu führte, dass ich meine 500 Franken innerlich abschrieb. 

Wie aus 500 über 20 000 werden


Ein Jahr später, genau am 21. Mai 2017, sitze ich mit meinem alten Freund Moritz auf einer Parkbank. Moritz dreht sich eine Zigarette. Das Dosenbier ist warm und schmeckt nach Blech. Wir schauen in die Nacht. «Hattest du nicht Ether gekauft?», fragt er plötzlich. «Gibts das noch?», frage ich. «Letztes Mal, als ich geschaut hab, lag der Kurs bei 60 Franken», sagt Moritz. «Was?!» Ich überschlage im Kopf: Meine 500 sind heute über 10 000 Franken wert. Sofort google ich den Kurs. Ein Ether kostet 144 Franken! Das entspricht über 20 000 Franken. Wow. «Hm... Ich weiss gar nicht, wo ich den Code habe», sage ich zu Moritz. «Und da war doch diese Spaltung. Keine Ahnung, ob ich ETH oder ETC habe.» ETC liegt bei 8 Franken pro Münze. Damit hätte ich bloss müde 1400 Franken. Sofort schreibe ich meinem Hackerfreund. Am Morgen antwortet er: «Wenn du bei der Spaltung nichts gemacht hast, hast du jetzt beide Währungen.» Kann das wirklich wahr sein? Nervös durchwühle ich die Papierstapel, in denen ich alles ablege. Schliesslich finde ich Adresse und Passwörter. «Schau nach, ob der Ether noch im Wallet liegt», hatte mir mein Freund geraten. «Vielleicht hat dich jemand gehackt und alles leer geräumt. So was kommt vor.» 

Wo sind meine Ether?


Ich öffne Etherscan.io, kopiere die Adresse in das Suchfeld. Und da liegen sie, meine Etherchen. Alle da, unberührt seit über 500 Tagen. Eigentlich hätte ich bis zu diesem Zeitpunkt herausfinden müssen, wie man aussteigt. Oder zumindest mal testen sollen, wie man das Geld bewegt. Ich entschuldigte mich vor mir selber damit, dass man ein besonders feines Gericht doch auch nicht runterschlingt, sondern langsam geniesst. Nur der Gierige schlingt. In Wahrheit war ich längst drauf. Ich wollte mehr. 

Die Kurve ging steil nach oben – eine haushohe Welle, die sich vor mir auftürmte. Eine Welle, die immer weiterwuchs. Wenn man auf Coingecko den Kurvenverlauf seit der Etablierung von Ether anschaut, sieht man, wie der Kurs über Monate hinweg völlig flach verlaufen war, irgendwo bei rund 12 Franken. Ebbe. Und dann, im Februar 2017, fing er an zu steigen. Erst leicht. Dann immer stärker. Plötzlich richtete sich die Welle auf und schoss Richtung Mond. «Hockeyschläger» sagen Statistiker zu solchen Verläufen. Eigentlich gibt es sie nur in den Präsentationen von Investmentberatern. 

Aber das hier war echt, und es geschah mir. Jeden Tag nahm der Wert um etwa 20 Franken je Einheit zu. Ich hatte eine Zinsrate von 10 Prozent – pro Tag. Jeden Tag verdiente ich 3000 oder 4000 Franken dazu. Zumindest theoretisch. Zürich schien mir plötzlich relativ günstig. 

Bei etwa 320 Franken, Anfang Juni, traf ich ein paar Bekannte in einer Badi. Allesamt Künstler. Wir kamen auf Ethereum zu sprechen. Alle kannten es. «Hast du von Birru gehört?», fragte einer. Birru ist ein Designer, der sich nur in Bitcoin bezahlen lässt. Kürzlich sei er auf Ether umgestiegen. «Der ist jetzt Millionär, er hat mir einen Screenshot seines Kontostands auf Facebook geschickt.» Tanja zeigte ihn mir. Tatsächlich. Eine Million. Zumindest umgerechnet. 

Ich begann zu träumen. Mittlerweile prüfte ich den Kurs öfter als meine Whatsapp-Nachrichten. Aktuell stand er bei 326 Franken. Ein paar Minuten später war er schon wieder ein bisschen angestiegen, und ich hatte wieder ein paar Tausend virtuelle Franken mehr. Gedanklich badete ich in Dollarscheinen. Allmählich wollte ich Bares sehen. Denn mit Ether kann man nirgendwo zahlen. Man kann nichts damit kaufen. Von den vielen Funktionen, die Geld theoretisch haben kann – Recheneinheit, Wertaufbewahrung, Zahlungsmittel –, ist Ether am allerwenigsten ein Zahlungsmittel. Wie wandle ich das Zeug also in echtes Geld um?, fragte ich mich. 

Grundkurs Steuerrecht


Ich rief David an. David war mein Joker. David war ein Crack. Er hatte vor einigen Jahren seine Firma verkauft, mit dem Erlös Gold erworben und dieses 2013, nach einem massiven Kursanstieg, im genau richtigen Moment gegen Bitcoin eingetauscht. Bei einem Treffen am Zürcher Hauptbahnhof. Gold gegen Code. David war das Gold los, er hatte den geheimen Zugang zu einem Bitcoin-Konto und ging völlig erleichtert nach Hause. Gold fiel direkt danach in den Keller. Bitcoin stieg in den Himmel. 

«David, wenn ich Ether verkaufe, muss ich den Gewinn versteuern?» David lebt in einer Villa in Seenähe, er war grade dabei, die Blumen zu giessen. «Nein», sagte er in beruhigendem Bündnerdeutsch, «du musst darauf keine Steuern zahlen.» Das zähle als privater Kapitalgewinn aus beweglichem Anlagevermögen. 

Strike! Früher war ich sehr für Kapitalertragssteuern. Ich fand es ungerecht, dass Leute, die keinen Finger rühren, nichts für die Gewinne aus ihren Aktien-, Immobilienoder Devisenspekulationen abgeben müssen. Jetzt hatte ich die Seiten gewechselt. Ich war ein Kapitalist. 

«David, wie soll ich Ether verkaufen?» Via Bitcoin Suisse, sagte er, das sei eine Börse, die ein Bekannter aus Zug betreibe. Teurer als ein paar andere Börsen, aber zuverlässig. Nicht wie die Betreiber von Mt. Gox, einer Bitcoin-Börse, deren Einlagen plötzlich einfach spurlos verschwunden waren. Der Riesenskandal hatte 2013 den Bitcoin-Handel in eine Krise gestürzt. 

«Es gibt eine Handvoll Börsen für Ether», erklärte mir David. «Kraken, Poloniex und so weiter. Keine handelt Ether gegen Franken. Bei Kraken gibt es immerhin Euro für Ether.» Dann erzählte er mir, dass er gestern ein bisschen Ether verkauft habe. Er habe ein schlechtes Gefühl gehabt bei dem krassen Anstieg. «Für wie viel?», fragte ich. «Umgerechnet 280 Franken.» «Heute sind es 320», sagte ich. David schluckte. 

Die Krake füttern


Am Abend klappte ich meinen Rechner auf und suchte die Seite von Kraken. com. Die Adresse gab ich nicht in den Browser oben ein, sondern googelte sie. Das ist ein Trick, den mein Hackerfreund mir gezeigt hatte. So kommt man sicher zur offiziellen Website und kriegt nicht von einem manipulierten Browser eine falsche Adresse untergeschoben, die das Passwort abfischen könnte. Ich klickte auf den Kraken.com-Link, überprüfte die Adresszeile noch mal beim Laden. Der Kurs lag mittlerweile über 330. Es fühlte sich an, als würde ich fliegen. 

Es gibt diesen Film, «Cosmopolis», nach einem Buch von Don DeLillo. Die Handlung spielt in der Stretchlimousine eines Devisenspekulanten, die durch eine Stadt rollt, in der Chaos herrscht. Das Einzige, was den Spekulanten bewegt, ist der Wechselkurs des chinesischen Renminbi gegen den Dollar. Im Auto herrscht absolute Ruhe. Bis zum Tod des Spekulanten. Daran musste ich denken. 

Um bei Kraken zu handeln, muss man einen Account eröffnen. Dann kann man in ein «Verkaufen»-Feld eintragen, wie viel Ether man anbieten will, in einem zweiten Feld dann, zu welchem Kurs. Anschliessend muss man «Sell» – Verkaufen – drücken und kann entspannt warten, ob jemand anbeisst. Das ist alles. Fast. 

Zuvor muss man noch ein dreistufiges Identifizierungsverfahren durchlaufen. Ähnlich wie bei Banken. Man nennt es: «Know your customer». So kommt es also, dass ich einer Website namens Kraken, von der ich keine Ahnung hatte, wer sie betreibt, meine persönlichsten Daten zusende: ein Foto meines Passes, meine Kreditkartenabrechnung. Kraken antwortet, ich solle ein paar Tage warten. Verdammt. 

Ich war verunsichert, aber infiziert. «Wie lange dauert es bei Kraken, bis ich verkaufen kann?», schrieb ich dem Hackerfreund. «Bei mir hats zwei Wochen gedauert», antwortete er. Auch er war unsicher. «Warum steigen und fallen Kurse eigentlich?», fragte er. 

Die ehrliche Antwort: Niemand weiss das. Der eine verkauft, weil er denkt, es geht bergab. Der andere kauft, weil er denkt, es geht bergauf. Der momentane Kurswert ist die Summe solcher Gedanken. Wäre bekannt, warum ein Kurs steigt oder fällt, gäbe es keine Spekulation, weil alle den wahren Preis wüssten. Spekulation ist das Ergebnis fehlenden Wissens. 

Um Kurse vorherzusagen, muss man also herausfinden, welche Informationen die Spekulanten haben. Was sie lesen. Ich googelte Ethereum, und las, dass der nun 23-jährige Ethereum-Gründer Vitalik Buterin soeben Wladimir Putin höchstpersönlich getroffen hatte. Ich wusste allerdings nicht, ob das eine gute oder schlechte Nachricht war, ob ich also kaufen oder verkaufen sollte. Dann erinnerte ich mich, dass Buterin lange Textnachrichten auf Mandarin versandt hatte und in China das grösste Potenzial sah. 1,4 Milliarden potenzielle Käufer, dachte ich. Das macht Hoffnung auf Nachfrage. 

Mein Hackerfreund schrieb mir, dass er einen detaillierten Ausstiegsplan verfasst und bei 500 Franken endgültig ausgesorgt habe. Dann sei er im Kryptomillionärsklub. 

Am nächsten Tag, am Montag, den 12. Juni 2017, traf ich in Basel einen befreundeten Schriftsteller. Mittags schwammen wir im Rhein, er sprach mich auf Ether an. Er war wahnsinnig interessiert. Und erzählte von Künstlerfreunden, die ihren Beruf aufgegeben hätten, um Ether-Spekulanten zu werden. Deren Stimmung steige und sinke mit den Kursen. So erging es auch mir. 

Montag gegen 16 Uhr erreichte der Ether-Kurs sein absolutes Hoch von 386 Franken. Ich war glücklich. Und beschloss auszusteigen, wenn aus meinen 500 Franken 100 000 geworden wären. Exit also beim Kursziel von 530. Gier? Nicht mit mir. 

Um 17 Uhr brach der Kurs ein. Ein Kurssturz auf 340 Franken, innerhalb von Minuten. Die Coingecko-Seite blockiert. Zerohedge, ein wichtiger Finanztwitterer, schrieb, Ethereum habe technische Probleme. Am Dienstagmorgen war Coingecko immer noch down. Ich hatte Schwierigkeiten, die Kurse überhaupt zu finden. Jede Seite zeigte etwas anderes. Der Kurs fiel. Ein Viertel meiner geliebten Gewinne war schon verschwunden. Und die Hände waren mir gebunden. Mein Kraken-Handelsaccount war immer noch deaktiviert. Mein Hacker: verreist. 

Am 25. Juni postete ein anonymer User auf dem beliebten Onlineforum 4chan: «Vitalik Buterins Tod bestätigt. Insider verkaufen Ether.» Der Kurs fiel sofort weiter. Die Nachricht stellte sich aber als Fake-News heraus: Buterin postete ein Selfie. Die Nervosität verschwand trotzdem nicht. 

Morgens galt mein erster Blick nicht Frau und Kind, sondern meinem Smartphone. Auf den Ether-Börsen tobte eine heroische Schlacht zwischen Optimisten und Pessimisten. Der Kurs stieg und fiel um bis zu 20 Prozent – stündlich. Volatilität nennt man das. Ich war verunsichert und rief meinen ältesten Freund an. Soll ich versuchen, schnell alles loszuwerden? Oder irgendwie zu handeln, in andere Währungen zu gehen? Oder zu zocken? «Nein», sagte Paul, so heisst er, «die Idee der Spekulation ist, Geld zu verdienen, ohne dafür einen Finger krumm zu machen.» Das sei die reine Lehre der Spekulation. Paul ist Designer. Er hat keine Ahnung von Digitalgeld. Ich hörte auf ihn. 

Hochmut kommt vor dem...


Ich bin ein Marathonläufer auf halber Strecke. Es ist hart durchzuhalten. Ich darf so lange nicht verkaufen, bis ich am Ziel bin. Irgendwie muss ich mich motivieren. Ich laufe am Tesla-Shop in Zürich vorbei, da kommt mir eine Idee. Dort steht das Modell S. Ich lasse meine Hände darübergleiten. «Wie viel?», frage ich. Für etwa 80 000 könne ich das Auto erwerben, erzählt mir die Verkäuferin. Was ich habe, sind umgerechnet etwa 55 000 Franken. Tendenz fallend. Da fehlt mir noch einiges, denke ich. Und wenn ich für die Kinder etwas zurücklegen will, dann fehlt noch mehr. Aber jetzt habe ich ein Ziel: einen Tesla und Rücklagen für meine Kinder. Zusammen 100 000 Franken. So lange werde ich meine Ether halten. 

Der erste Einbruch ist für Anfängerspekulanten ein Erweckungserlebnis. Er trennt die Spreu vom Weizen. Entweder hält man durch – oder man ist raus. Am Ende gewinnt, wer die kurzfristige Gier nach schnellem Profit bändigen kann. Hoffe ich. 

Am 2. Juli gibt es einen sogenannten Flashcrash, und für ein paar Sekunden ist Ether nur noch 15 Franken wert, etwa so viel wie am Anfang. Dann springt er zurück auf 200. «Krypto Life» nennt mein Hackerfreund das: fast die Sonne berühren, um dann ins Bodenlose zu fallen. 

Ich will aber nicht fallen. Ich will aufsteigen. Und genau dann zeigt das angeblich so entwickelte Ethereum-System Schwächen. Ich frage mich zunehmend, ob mein Ex-Spekulanten-Freund, der von Anfang an gesagt hatte, ich solle alles verkaufen, nicht recht hatte. Dass alles doch nur ein Schneeballsystem sei, ein Riesenbetrug, der am Ende auffliege, und dass ich dann merken würde, dass man Bits nicht essen kann. 

Ich versuche, meine Laune nicht von den Kursen steuern zu lassen. Aber das ist hart. Ich bekomme dieses Augenzucken, das mich an der Uni vor Prüfungen geplagt hat. 

Am 2. Juli wache ich nachts auf, greife zum Handy und checke die Kurse. Meine Freundin schläft. Vorher war sie wütend gewesen. Weil ich mich für nichts mehr interessiere, nicht für sie, nicht für die Kinder. Ich würde nur über Geld sprechen. Eigentlich sei ich schon selber wie Geld: leer von innen, hatte sie gesagt. 

Ich gehe in die Küche, öffne das Fenster. Draussen ist eine warme Sommernacht. Was mich am meisten überrascht, ist, dass mich ihre Wut so kaltgelassen hat. Ich fühle mich im Recht. Ich bin jetzt jemand, der gegen die Kapitalertragssteuer ist. Ein rationaler Investor, der in den Tesla-Shop geht. Der lieber spendet als Steuern zu zahlen, «um seinen Beitrag zu leisten». Der auf dem Spielplatz Kurse checkt. Der sein Handy öfter in der Hand hat als sein Kind. Ich finde mich ätzend. Nervös, hektisch, obwohl ich in Wahrheit gerade mal 500 Franken zu verlieren habe. Ich bin ein Gierschlund. 

Mein Bruder und der Ether


Es ist kurz vor Mitternacht. Ich rufe meinen grossen Bruder an. Er ist ein Computerfreak. Ich glaube, er ist so schlau, dass er die Blockchain versteht. Früher hat er nebenher immer ein bisschen Geld damit gemacht, rare Lego-Editionen über Ebay zu verhökern. Als ich ihm von Ether erzählte, stieg er sofort ein. Deutlich höher als ich. Seither stapeln sich bei ihm zu Hause immer weniger Legopackungen. Dafür, glaube ich, freut er sich seither immer mehr, wenn ich anrufe. Ich erzähle ihm von meinen Sorgen. Er schweigt. Vielleicht checkt er grade die Kurse, denke ich. Vielleicht interessiert auch er sich nur noch für Geld. Oh Gott! Vielleicht habe ich ihn mit der Gier angesteckt. Vorsichtig teste ich ihn aus: «Bist du schlecht drauf, weil Ether abgestürzt ist?» Im Gegenteil, sagt er: «Ist doch immerhin auf 230 Franken.» – «Aber das ist eine Katastrophe», sage ich, «ich versuche, hier was rauszuholen. Ich will 100 000.» 

«So ein Quatsch», antwortet er. «Diese Mischung aus Panik und Gier, die kenne ich. Bis vor Kurzem war ich auch noch völlig aufgeregt. Ich wollte im richtigen Moment da sein, den Knopf drücken, verkaufen. Irgendwann hab ich gemerkt, dass ich das Digitalgeld gar nicht brauche. Meine Mietwohnung, der Kleinwagen, die Ferien – dazu reicht mein Gehalt doch völlig.» Er habe deshalb entschieden, keinen Finger mehr zu rühren. Die Gewinne und Verluste sind jetzt nur noch Entertainment. Mein Bruder macht eine Pause. «Ich glaub, genau so fühlt sich Reichtum an. Also der richtige. Wenn das Geld seine Macht über dich verloren hat.» 

In dieser Nacht ändert sich alles für mich. Ab jetzt kann ich wieder beruhigt leben. So muss man sein Leben als Spekulant führen: Man muss aufhören, sich als Entscheider zu fühlen. Die Kurse zu prüfen, als würde man eine Rolle spielen. Dem Markt bist du egal. Du musst einfach loslassen wie bei einer Party, bei der man tanzt und irgendwann nach Hause geht. 

Am 27. Juli wird mein Kraken-Account freigeschaltet. Nach sechs Wochen des Wartens. Bis dahin hat sich der Wert des Ether im Verhältnis zum Höchststand etwa halbiert. Egal. 

Dann beginnt der Ether zu steigen. Den ganzen Sommer über. Erst sanft und etwas zittrig, dann immer steiler. Ich beobachte das in aller Ruhe. Ein paar Tausend hin oder her? Das ist der Spass an der Sache. Man muss die Wellen spüren. Irgendeine nehme ich. Am 2. September, einem Samstag, nachdem ich den Kleinen gewickelt habe, werfe ich am Frühstückstisch, als meine Freundin den Kaffee holt, mal wieder einen Blick auf den Kurs. Es sieht aus wie damals, bevor die erste Riesenwelle kollabierte. 

Das ist sie jetzt, meine Welle. Nur 20 Ether hebe ich mir auf. Eine Stunde später überweise ich 60 426.13 Franken auf mein echtes Konto. Ich habe mehr als 12 000 Prozent Gewinn an Land gezogen. 

Was ich mit dem Geld gemacht habe? Ich habe eine dieser altmodischen Bankfilialen aufgesucht, man bot mir ein Sparkonto für meine Kinder an. Zinsrate: 1 Prozent.


Publications:

Tages-Anzeiger Das Magazin Internazionale, Neon

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